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AutorenbildIna Trouet

Gastbeitrag: Essstörungen – oder warum du heute frei bist, zu entscheiden.

Liebe Leser*innen, zur Zeit fällt es mir schwer, mich mit dem Thema Essstörung zu beschäftigen. Das liegt daran, dass mein Leben weitergeht und ich mich momentan mit anderen Dingen beschäftigen muss und möchte, die mich wiederum heute beschäftigen.


Umso mehr freue ich mich, dass ich dank meinem Blog so viele wunderbare Frauen kennenlernen durfte und darf, die ihre Gedanken mit mir teilen – und auch mit euch teilen möchten. Deshalb gibt es heute wieder einen Gastbeitrag. Einen, der sehr speziell ist. Das Thema hat mich in meinen Grundfesten erschüttert. Er handelt von der Entstehunng einer Essstörung im Zuge von Kindesmissbrauch. Deshalb an dieser Stelle eine ernst gemeinste


Triggerwarnung!


Hier geht es um sexuelle Gewalt an Kindern. Bitte lest nicht weiter, wenn ihr euch emotional nicht gewachsen fühlt.


Dennoch denke ich, dass hier, in diesem Blog, jede Geschichte einen Platz haben darf und muss. Denn: Jede noch so schlimme Realität birgt Potenzial für Wachstum. Und auch, wenn ihr euch nicht wiederfindet in den Schilderungen dieser Frau, die so Schlimmes erleben musste, so werden euch ihre Worte vielleicht weiterhelfen können. Und das ist mein Ansatz: Dass alles, was passiert, einen Sinn hat. Dass es erzählt werden muss, so dass wir anderen damit helfen können.


Dies ist also der Beitrag einer Frau, die mich im Herzen berührt hat und die selbstverständlich anonym bleiben möchte.


Lieber Leser, liebe Leserin,


eine Essstörung zu bekommen, ist keine freie Entscheidung. Du warst in einer Situation, in der du keine Wahl hattest. Vielleicht hättest du ohne die Essstörung nicht überlebt, so wie ich. Oder du wärst zusammengebrochen und hättest nicht weiter deinen Alltag gemeistert. Sie war wie eine symbolische Gehhilfe, die dich eine Weile deines Lebens hat weiterlaufen lassen.


Hirnphysiologisch warst du vielleicht im „Dauerstressmodus“. Wenn der Körper ständig mit Kampf oder Flucht rechnet, ist es nicht funktional, viel zu essen, denn mit vollem Magen flieht sich schlecht. Aber in der Steinzeit war dieser Zustand irgendwann vorbei, sympathisches und parasympathisches Nervensystem normalisierten sich wieder, der Mensch kam zur Ruhe und fing wieder an, zu essen und sich zu regenerieren.


Was aber, wenn der Stresszustand nicht aufhört? Wenn er dauerhaft wird und Verhaltensmuster dazu sich im Gehirn zu „Schnellstraßen“ entwickeln? Genau das ist bei einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leider der Fall.


Ich habe meine Essstörung schon so lange. Aber ich habe aufgehört, mich deshalb schlecht zu fühlen. Vielleicht ist mein Essverhalten nicht „normal“ – aber was ist die Definition von „normal“? Das, was ich erleben musste, war krank – ich wurde als Kind sechs Jahre lang von meinem leiblichen Vater missbraucht. Ich war klein … knapp sechs, als alles anfing und knapp zwölf, als es aufhörte. Ich habe nicht verstanden, dass ich nicht schuld war. Diese Einsicht ereilte mich erst Jahre später.


Ich habe als Erwachsene eine Zeit lang in der Hirnforschung gearbeitet. Kinder, die längere Zeit traumatischem Stress ausgesetzt werden, zeigen hirnphysiologisch eine Volumenverringerung im Hypocampus – genau dieses Areal ist unter anderem dafür verantwortlich, dass wir in den Ruhemodus zurückfinden. Leider ist diese Veränderung nicht reversibel, und mir fällt es auch heute immer noch extrem schwer, zur Ruhe zu kommen.


Ich bin inzwischen 41 Jahre alt. Ich kann viele Lebensmittel immer noch nicht essen, weil ich auch zum Essen mancher Lebensmittel gezwungen worden bin und mir einfach übel wird. Ich habe mich entschieden, diese Lebensmittel auch nicht mehr essen zu müssen, denn mein Körper gehört mir. Ich habe ein Recht darauf, mich in der Gegenwart bestmöglich zu fühlen. Mir wurde in meiner Kindheit so viel genommen – am meisten fehlt mir mein Lachen und ich habe es bis heute nicht gefunden. Es schmerzt …


In jedem Körper wohnt eine Seele, die so unendlich viel weiser ist als unser Verstand. Die heutigen Therapien greifen oft nicht, führen zur Symptomverschiebung oder zum kompletten Zusammenbruch. Ich habe ein Packet von ICD-10 Diagnosen und bin stationär deshalb meist nicht „systemkompatibel“. Aber sind wir nicht alle individuell? Jeder hat seine subjektiven Schwierigkeiten. Ich halte ICD-10-Diagnosen nur dann für hilfreich, wenn sie einen Weg zur Behandlung aufzeigen.


Ich weiß, dass in mir mehr Kraft ist, als ich oft fühle … so unendlich viel mehr. Sonst wäre ich heute nicht mehr hier. Ich habe mich damit arrangiert, dass stationäre Hilfe nicht passt.


Kannst Du dich selbst lieben? Was spielt die Zahl auf der Waage dann für eine Rolle – so lange sie nicht lebensbedrohlich ist? Ich werde nie wieder Butter essen – nein, nicht wegen der Kalorien, sondern weil ich unter Androhung von Gewalt dazu gezwungen wurde. Ich esse Kuchen, Schokolade, Nüsse …


Ich bin mehr als die Summe meiner Diagnosen. Ich bin heute frei, zu entscheiden. Und wenn ich mein Leben lang ein wenig essgestört bleibe, so sehe ich das entspannt. Was ich erleben musste, war extrem pathologisch. Ich habe mit sechs aufgehört zu sprechen, zu essen und zu spielen. Doch ich habe überlebt – und wenn aus dem Überleben ein Leben wird und ich mein Lachen wiederfinde, dann habe ich gewonnen.


Mein „Nein“ hat heute ein Gewicht und ich kann es aussprechen. Ich darf Grenzen setzen. Ich habe lange gebraucht, um das zu lernen. Deshalb gibt es keine Notwendigkeit mehr, körperlich zu verschwinden, man darf mich gefahrlos sehen.


Ganz gleich durch welche Schmerzen ich gegangen bin und noch gehen werde, mir bleibt die Sicherheit, dass mit dem Tod jeder Schmerz aufhört. Aber die Liebe, die wir geben, währt ewig, auch wenn unser Dasein endlich ist.


Ich wünsche Euch allen, dass ihr den Weg in euch findet. Denn ihr seid einzigartig und jeder Mensch ist ein Geschenk an diese Welt.


Ja, ich weiß, dass ihr jetzt erst einmal durchatmen müsst. Tut das.


Es geht für mich mit dem Posten dieses Gastbeitrags nicht darum, euch aus der Reserve zu locken, euch zu zeigen: Seht mal, so schlimm geht es anderen, also stellt euch nicht so an. Nein, diese Frau zeigt euch einfach nur, dass jeder seine Geschichte hat, die oftmals wie Blei auf den Schultern lastet und das Lächeln verschwinden lässt. Aber ihr alle habt die Wahl. Ihr habt die Kraft, das Beste aus eurem Leben zu machen. Vor allem aber: Ihr habt das Geburtsrecht, für euch zu kämpfen, es euch bestmöglich gutgehen zu lassen. Ihr dürft glücklich sein. Niemand darf euch das verbieten. Tut ihr es auch nicht. Öffnet euch für die Möglichkeiten, die in euch liegen und die das Leben euch bietet. Für die Fülle, für das Glück, dass ihr am leben seid. Geht genau den Weg, der zu euch passt und sich für euch gut anfühlt. Lasst euch nur von eurer Intuition beeinflussen, von niemandem sonst. Niemand kennt eure Geschichte so gut wie ihr. Niemand weiß, was euch gut tut. Fangt an, in euch hineinzuhorchen und hinzuspüren, was ihr braucht, um dieses Leben bestmöglich leben zu können.


Ich bin an eurer Seite.


Alles Liebe, eure Ina


Dieses Bild hat die Verfasserin des Gastbeitrags als junge Erwachsene gemalt. Es zeigt die Hoffnung, die tief in ihr geschlummert hat. Die Hoffnung darauf, endlich ein Leben leben zu dürfen, das sie verdient hat. Sie und ich möchten es gerne mit euch teilen.






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