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AutorenbildIna Trouet

Recovery während der Corona-Krise: gesund werden und dabei gesund bleiben.

Aktualisiert: 20. Mai 2021

Jetzt, da sich die Lage zugespitzt hat und so manches Bundesland eine Ausgangssperre verhängt hat, spüre ich tiefe Dankbarkeit darüber, dass ich gesund bin und meine Essstörung Vergangenheit ist.


Gleichzeitig denke ich sehr oft an die, deren Gesichter ich nicht kenne, obwohl ich deren Gedanken lesen und Gefühle deuten kann: Ich denke an dich, die du jetzt zu Hause bleiben musst, vielleicht sogar eine Familie hast, um die du dich kümmern musst – und versuchst, diese be****** Essstörung irgendwie loszuwerden. Und zwar in Zeiten, in denen mit Argusaugen darauf geachtet wird, was sich Herr X und Frau Y in den Einkaufswagen lädt.


Ich empfinde tiefstes Mitgefühl für deine Situation und gleichzeitig möchte ich dir Mut machen. Wie, das weiß ich noch nicht. Ich hoffe aber, das während dem Schreiben herauszufinden. Wichtig ist, dass du weißt, dass du nicht alleine bist. So wie dir geht es momentan hunderten, ja vielleicht sogar tausenden Frauen in Deutschland. Du bist nicht "anormal" oder "verrückt", wenn du genau jetzt darüber nachdenkst, wie und wann du deinen nächsten Hamsterkauf (bestehend aus Süßem, nicht aus Klopapier, Eiern und Mehl) machen wirst, ohne dabei aufzufallen. Du bist essgestört und auf der Suche nach Heilung. Und die solltest du trotz Corona-Krise nicht weiter hinauszögern. Denn ich bin fest überzeugt, dass es in den kommenden Monaten schwieriger für dich sein wird, die Essstörung aufrechtzuerhalten, als für einige Wochen oder vielleicht auch Monate über die Maßen essen zu müssen, um dann endlich zur Normalität zurückkehren zu können.


[WICHTIG: Dies und alles, was ich noch schreiben werde, ist meine ganz persönliche Meinung. Ich bin keine erfahrene Therapeutin, ich zehre lediglich aus meinen Erfahrungen als ehemalige Betroffene, die einen Weg gefunden hat, vollständig zu genesen.]


Nun, die Frage ist, wo du gerade stehst. Bist du bereit, die Recovery zu beginnen oder steckst du gerade mitten drin? Bist du alleine oder hast du Kinder, vor denen du dein heilendes Essverhalten verheimlichen willst, aus Angst, dass es verstörend auf sie wirkt oder du (für eine gewisse Zeit lang) ein falsches Vorbild sein wirst? Bist du im Home-Office und arbeitest in jeder freien Minute, ohne Zeit dafür zu haben, hilfreiche Videos auf YouTube anzuschauen? Fakt ist, dass es für dich in der nächsten Zeit schwer sein wird. Fakt ist aber auch, dass du es schaffen kannst.


Ich versuche jetzt, einige FAQ zu diesem Thema zusammenzustellen und Antworten zu finden, mit denen du vielleicht etwas anfangen kannst.


Wie schaffe ich es, all' die Süßigkeiten und das Junk-Food zu kaufen, das ich gerne essen möchte, ohne dabei aufzufallen?


Zu allererst möchte ich dich bitten, gar nicht erst auf die Idee zu kommen, diverse Läden hintereinander abzuklappern und in jedem nur die "handelsübliche" Menge zu kaufen. Zur Zeit ist es sehr, sehr wichtig, dass du, wenn du rausgehst, so wenig Kontakt wie möglich mit anderen Menschen und Dingen hast, die bereits von Fremden angefasst worden sind (seien es Türgriffe oder Waren). Suche dir also lieber einen Laden aus, der all' das hat, was du brauchst und der vielleicht in einem Stadtteil oder in einem Ort ist, der etwas weiter weg ist. So läufst du nicht Gefahr, von Bekannten "ertappt" zu werden. Zudem denke ich, dass es durchaus sowohl für die Natur als auch die Gefahr der Ansteckung in Ordnung ist, einmal wöchentlich im eigenen Auto zwanzig Minuten Fahrtzeit auf sich nehmen. Immerhin bleibt das Auto ja sehr wahrscheinlich zur Zeit den Rest der Woche stehen.


Um dich nicht schämen zu müssen, könntest du zusätzlich – wenn du hast – einen Mundschutz und eine Käppi oder Mütze anziehen. Du wirst wohl nicht die einzige sein, die gerade so unterwegs ist. Und dann gibt es noch die Möglichkeit, einen Einkaufszettel zu schreiben, der mehrere Namen aufführt (z. B. Oma Marga: Kekse, TK-Pizza, Rahmspinat usw. // Mama: Schokolade, Pizza-Baguette, Wurst, Käse // ...) und den du so hälst, dass ihn auch wirklich jeder sehen kann.


Ich möchte aber auch, dass du weißt, dass dies nur Maßnahmen sind, um dich zu schützen. Im Prinzip brauchst du diese Taktiken nicht, denn es ist egal, was die anderen denken. Viel wichtiger ist, dass du gesund wirst. Für dich. Für deine Familie. Für deine Freunde.


Meine Kinder sind jetzt dank der Kita- und Schulschließungen nonstop in meiner Nähe. Wie soll ich nur all' die "ungesunden" Lebensmittel in Mengen essen, ohne dabei aufzufallen?


Ich gebe zu, das ist eine taughe Frage. Ich persönlich würde es es wahrscheinlich so machen: Ich würde mir meinen Vorrat im Keller bunkern und immer wieder verschwinden, um heimlich zu essen. Die Mahlzeiten würde ich ganz normal mit meiner Familie einnehmen. So habe ich es übrigens auch während meiner Recovery an den Wochenenden gemacht. Dabei habe ich es auch gar nicht als schlimm empfunden, heimlich zu essen. Es hat mich tatsächlich nicht an meine Anfälle erinnert und es hat mir auch kein schlechtes Gefühl gegeben, weil ich mir ja die vollständige Erlaubnis zum Essen gegeben hatte. Hier kommen wir an einen wichtigen Punkt: die Umprogrammierung deiner Denkweise. Halte dich an die Sätze und Affirmationen, die dir helfen, gesund zu werden. Sage sie dir immer und immer wieder im Geiste vor. Zum Beispiel:


"Ich gebe mir die Erlaubnis, immer genau das zu essen, was ich möchte."

"Ich höre erst auf zu essen, wenn ich nicht mehr essen möchte, weil ich nur so gesund werde."

"Ich darf essen. Immer."

"Ich bin richtig so, wie ich bin."

"Ich bin auf dem richtigen Weg."

"Ich heile."


Achte darauf, dass deine Sätze immer die Gegenwart wiederspiegeln. Gehe nicht in die Zukunft, denn dann glaubt dein Gehirn, dass es jetzt noch nicht soweit ist. Als Beispiel: "Ich werde mit diesem neuen Essverhalten gesund werden." Dann schaltet dein Gehirn auf den Warten-Modus und nicht auf Aktion.


Wie kann ich mich jetzt mit meiner Recovery auseinandersetzen und mich aufs Essen konzentrieren, während weltweit so viele Menschen an diesem schlimmen Virus sterben? Ist das nicht total egoistisch?


Nein, das denke ich nicht. Die Sache ist die: Du hast dir deine Essstörung nicht ausgesucht. Sie ist eine Krankheit, die dich an den Rand der Verzweiflung bringen kann. Sie blockiert dich, sie lässt dich dein Leben aufschieben. Du bist weit weg von dir. Warum darf jemand, der auf so existenzielle Weise von einer Krankheit bedroht wird, nicht gesund werden wollen? Ich glaube, dass Vergleichen unglücklich macht. Und ich glaube, dass Bewerten unglücklich macht. Deshalb gebe ich dir den guten Rat: Nimm' es hin, wie es ist. Glaube daran, dass du so viel besser für die Menschen da sein kannst, die dir wichtig sind, wenn du gesund bist. Dass du viel mehr Kraft hast, dich um andere zu kümmern, wenn sich deine Gedanken nicht permanent ums Essen kreisen. Ja, momentan tust du etwas, das niemand nachvollziehen kann, der es nicht selbst erlebt hat. Das heißt aber nicht, dass es falsch ist. Im Gegenteil, du tust das einzig richtige. Du springst in dieses tiefe, schwarze Loch, um endlich wieder du sein zu können. Und wenn du du bist, dann kannst du auch wieder für andere da sein. Lass' dich nicht beirren. Es gibt so viele Frauen, die gerade genau das erleben, was du erlebst. Glaube an dich, an deinen Weg, an die Tatsache, dass du nur so gesund werden kannst. Und es ist nichts Falsches daran, gesund werden zu wollen, wenn man krank ist, oder?


Wie kann ich mir Auszeiten nehmen, um durchzuatmen? Meine Kinder sind ständig um mich herum und brauchen meine Aufmerksamkeit ...


Die momentane Situation ist wirklich schwierig. Selbst ich, die ich gesund bin, komme nach nur einer Woche Home-Office, Haushalt und Kinder-Betreuung an meine Grenzen. Mein Kleiner, fünf Jahre alt, versteht gerade genug, um Angst zu haben und zu wenig, um alles zu verarbeiten. Bis meine Kinder schlafen und ich Zeit für mich haben kann, ist es also schon fast wieder Zeit, selbst ins Bett zu gehen, um Kraft für den nächsten Tag zu haben. Deshalb gebe ich dir den Tipp: Nimm' dir auch tagsüber kleine Auszeiten, indem du die Regeln lockerst. Ich selbst bin eigentlich eine Verfechterin von strikten Medien-Zeiten für Kinder. Aber momentan sehe ich mich gezwungen, da etwas entspannter zu werden. Ja, mein Großer darf im Moment mehr als 40 Minuten fernsehen am Tag. Aber ist es wirklich so unpädagogisch, sich somit kurze Momente zu gönnen, in denen man nur kocht, nur am Computer sitzt, nur staubsaugt ... und im besten Fall sogar nur ein paar Seiten liest oder ein Video auf YouTube über Recovery anschaut – und hinterher etwas entspannter ist, um nicht bei jedem Pups an die Decke gehen zu müssen? Ich denke, nein. Es ist eine Ausnahmesituation. Und außergewöhnliche Situationen brauchen außergewöhnliche Maßnahmen. Kinder sind resistenter, als wir glauben. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mit sechs Jahren die Titelmelodie von "Der Preis ist heiß" kannte und die Sendung mit einer Freundin nachgespielt habe. Ich musste also diese Sendung mindestens fünfmal gesehen haben, um eben solches tun zu können. Nein, ich habe keinen bleibenden Schaden davongetragen. Im Gegenteil, ich verdiene heute mein Geld mit meiner blühenden Phantasie, indem ich sie in Worte packe, austexte und verkaufe. Entspannen wir uns also ein wenig. Denn das ist das, was wir heute zu Zeiten wie diesen brauchen: Innere Ruhe für alles, was kommt. Ich wünsche dir von Herzen, dass du aufhörst, zu streng mit dir (und deinen Kindern) zu sein. Wir müssen nicht perfekt sein, wir müssen überleben – und zwar so gut es geht! Das ist unser gutes Recht.


Ich hoffe, dass ich die eine oder andere Frage beantworten konnte. Pass' auf dich auf! Und hole dir Hilfe. Sprich' mit deiner besten Freundin, deinem besten Freund oder deinem Mann über dich und deine Situation. Sie werden versuchen, dich zu verstehen. Und sie werden dich (per Telefon) umarmen. Eine Umarmung ist – und sei sie nur virtuell – so unglaublich wichtig in deiner jetzigen Situation. Sie ist Leben. Sie ist Liebe. Sie ist genau das, was du jetzt brauchst.

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