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Eine Geschichte über echte Sättigung. Und die Frage: Werde ich satt mit 2.000 Kalorien?

Aktualisiert: 4. Juli 2021

Ich weiß genau, worüber ich in diesem Beitrag schreiben möchte. Und gleichzeitig spüre ich jetzt, wie sich etwas in mir wehrt, dieses Thema anzugehen. Der Grund ist wohl der: Sättigung ist ein so umfassendes, verwirrendes, individuelles und gleichzeitig so wichtiges Empfinden vor allem für Essgestörte, dass es mir schwer fällt, darüber zu schreiben. Ich habe Angst, zu versagen.


Deshalb fange ich jetzt einfach mit einem Bild an, das mir im Kopf umherschwebt, wenn ich an echte Sättigung denke. Dieses Bild ist Teil einer kleinen Geschichte, die ich euch jetzt erzähle:


<<Es war einmal ein Mädchen, das voller Verzweiflung beschlossen hatte, ihre jahrelange Essstörung aufzugeben. Durch Zufall fand sie – nach langer, langer Suche – den Weg, der eine echte Heilung versprach. Da sie nichts mehr zu verlieren hatte, beschloss sie, ihn zu gehen: Sie aß. Sie aß und aß und aß all' das, was sie sich jahrelang verwehrt hatte in Mengen, von denen sie immer geträumt hatte. Sie hörte immer erst dann auf zu essen, wenn sich alles in ihr sträubte. Wie durch ein Wunder nahm ihr Körper das viele Essen auf, ohne dabei zu explodieren.

Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem das Mädchen zum ersten Mal nach langer, langer Zeit nicht mehr unentwegt ans Essen denken musste. Diese Gedankenfreiheit fühlte sich für sie an wie ein Wunder. Gleichzeitig spürte sie, dass ihr Körper beschlossen hatte, nicht weiter zunehmen zu wollen. War das die Sättigung, nach der sie sich all' die Jahre gesehnt hatte?

Die neu gewonnene gedankliche Unabhängigkeit ließ zu, dass sich das Mädchen wieder an ihr altes, gesundes Ich zurückerinnerte. Das Ich, das wild, abenteuerlustig und mutig gewesen war. Das Mädchen überkam plötzlich das Bedürfnis, diesen Teil von sich wieder frei, diese Seite wieder aufleben zu lassen. Der neue Lebensatem gab ihr die Energie.

Eines wunderbaren Tages machte sie sich also auf den Weg in die Berge. Kaum angekommen, fühlte sie sich dem Himmel und der Natur so unglaublich nah, dass sie vor Glück erschauerte. Sofort spannte sie die Felle auf die Ski, stieg mit einem Lächeln im Gesicht und im Herzen zum Gipfel hinauf, verschnaufte kurz – und fuhr dann den Hang hinunter. Ihr gesamtes Wesen, all' ihre Angst, ihre Zuversicht, ihr Schmerz, ihre Liebe, ihr Vertrauen, ihre Zweifel begleiteten sie. Im Tal angekommen standen ihr die Tränen in den Augen. "Wo warst du so lange?", dachte sie. "Ich war immer da", kam es aus ihrem Inneren zurück.

Am Abend setzte sie sich an einen voll gedeckten Tisch, um ihr Glück zu feiern. Das Mädchen hatte keinen Appetit, obwohl es den ganzen Tag ohne Pause im Berg verbracht hatte. Es war satt.>>


Dieses Mädchen war, wer hätte das gedacht, ich – vor genau zweieinhalb Jahren. Ich saß also, nach einem langen Skitag im Gelände, in diesem rustikalen Berggasthof. Vor mir dampfte ein Riesenteller Käsespätzle, ein Gericht, das ich mir fast fünfzehn Jahre lang nicht gegönnt hatte. Und? Ich bekam keinen Bissen runter, ich hatte unfassbarerweise keinen Appetit. Mein Skikumpan fragte mich, warum ich denn nichts essen würde, ich hätte ja den ganzen Tag noch nichts zu mir genommen. Ich antwortete: "Ich glaube, ich bin einfach erfüllt." Und ich lachte.


Ich im Januar 2020. Foto made by anne-kaiser.com


Ich hatte tatsächlich das gesamte Ski-Wochenende kaum etwas herunterbekommen. Kaum war ich wieder in der Heimat, kam der Appetit zurück. Ich war glücklich. Nicht, weil ich drei Tage hintereinander wenig gegessen und mit der vielen Bewegung sicherlich ein Kilochen verloren hatte. Natürlich nicht. Ich war glücklich, weil ich endlich erlebt hatte, was echte Sättigung bedeutet.


Um also echte Sättigung spüren zu können, braucht es beides: die Fülle im Körper und in der Seele. Wenn wir diese Vollständigkeit erfahren, sind wir geheilt.


Du siehst jetzt, worauf ich hinauswill – und warum das Thema Sättigung so komplex ist: Es geht um so viel mehr, als "nur" ums Essen. Es geht darum, herauszufinden, wer du bist. Was dich aus und ganz macht. Wer du vor der Essstörung warst. Wer du sein willst und vor allem: wie du dich fühlen möchtest – und was du tun musst, um das zu erreichen.


Deshalb ist es unglaublich wichtig, die Recovery nicht nur als endlosen Essflash zu erleben, sondern gleichzeitig auch in sich zu gehen. Die Tatsache, dass ich mich in den ersten Wochen und Monaten so gut es ging aus dem Leben zurückgezogen hatte (von den zahlreichen Kita-Gängen und sonstigen Mutti-Aktivitäten einmal abgesehen), hatte mir sehr geholfen. Nein, ich hatte mir in dieser Zeit keine weiteren Lebensratgeber vorgenommen, ich hatte auch nicht meditiert oder yogiert. Ich hatte mich einfach nur abends, sobald es im Haus ruhig war, ins Bett gelegt und einen Film angeschaut oder einen Roman gelesen. Dieser Rückzug hatte etwas mit mir gemacht. Er hatte mir den Raum gegeben, wieder zurück zu mir zu finden.


Heute bin ich ein gutes Stück weiter. Ich habe nicht aufgehört, an mir zu arbeiten, nur weil ich jetzt keine Essstörung mehr habe. Heute konzentriere ich mich mit aller Kraft und Energie auf eine vollumfängliche, ganzheitliche Heilung. Ich meditiere. Ich praktiziere Yoga. Ich bin momentan regelrecht süchtig nach dieser aboluten Ina-Zeit am Tag. Ich lerne so viel und ich weiß, das Wachsen wird niemals aufhören.


Und? Was ist jetzt mit den 2.000 Kalorien, die uns überall als the-amount-to-eat weitergegeben werden?


Aus diesen meinen Erfahrungen heraus weiß ich heute auch, dass die in Deutschland üblichen Wege, Essstörungen zu bekämpfen, in eine falsche Richtung gehen. Ich habe immer noch fest im Kopf verankert, dass der Durchschnittsmensch rund 2.000 Kalorien am Tag isst. Denn das habe ich (und leider auch einige andere, die ich kenne und die teils sogar als "nicht therapierbar" eingestuft worden sind [what???]) sowohl in der Klinik als auch in der ambulanten Therapie gelernt. Es sitzt fest und es ist unfassbar schwer, dieses Wissen tagtäglich mit meinem Besserwissen zu übertrumpfen. Aber ich weiß es eben besser. Ich weiß es, weil ich es erlebt habe. Ich und viele andere weltweit, die es geschafft haben, ihre Essstörung wirklich und wahrhaftig hinter sich zu lassen – mit Sicherheit auch viele "Nicht-Therapierbare".


Für mich steht fest: Niemand kann heilen, der sich jahrelang unterernährt hatte und sich dann sein Leben lang an 2.000 Kalorien orientieren soll. Erstens muss dieses unfassbare, jahrelange Defizit aufgeholt werden. Und zweitens ist der Bedarf nach der "Auffüllphase" höchstwahrscheinlich größer als die dogmatische Kalorienangabe so mancher. Ich zitiere hier Elisa Oras, die in ihrem Buch "BRAINWASHED. Diet-induced Eating Disorders. How you got sucked in and how to recover" schreibt:


But why do we see everywhere the recommended average intake of 2.000 calories? The truth is that this number was achieved by rounding down some more accurate numbers by twenty percent! It was found that it is much easier to use FDA (US Food and Drug Administration) benchmarks for average calorie consumption, even though calorie requirements vary according to body size and other individual characteristics.

Wir sehen hier ganz klar: Menschen machen Fehler. Sie kochen alle mit Wasser und es passiert, dass das Wasser überkocht. Selbst mir, die ich in meinem Leben schon gefühlte 100.000 mal Spaghetti-Wasser aufgesetzt habe. Schlimm aber, dass ein solcher Fehler, nämlich die Entscheidung, Kalorienangaben der Einfachheit halber abzurunden, so fatale Folgen haben kann. Und dass niemand zu diesem Fehler steht.


Was ist mit dem Tipp, am Essverhalten zu schrauben, um echte Sättigung spüren zu können?


Hinzu kommt der gute Rat, mit einem anderen Essverhalten gesunden zu können. Es gibt Programme, die ich im Grunde genommen auch sehr gut finde, weil sie sich auf intuitives Essen spezialisieren. Sie sind mit Sicherheit perfekt für Menschen, die nicht bis zum Hals drinstecken in der Misere. Sie sind aber sicherlich auch nichts für Essgestörte. Ich weiß das, weil ich es ausprobiert hatte.


Und warum ist das so? Der Fokus in puncto Essverhalten und Sättigung spüren ist in diesen Programmen der:

<<Spüre auf einer Hunger- und Sättigungsskala, wo du gerade stehst. Eins ist extrem hungrig, zehn ist übermäßig satt. Spüre genau in dich hinein. Du bist bei circa drei? Prima, dann versuche jetzt, herauszufinden, was genau du essen möchtest. Ist es das Nutellabrot? Wunderbar. Dann iss' jetzt das Nutellabrot. Ganz langsam. Hmmm. Lecker. Schmeckst du die verschiedenen Komponenten heraus? Riechst du das Nutella? Wonach riecht es? Kaue ganz langsam. Lass' jeden Bissen auf der Zunge zergehen. Nur so spürst du, wann du auf deiner Skala – sagen wir – bei acht angekommen bist. Denn dann bist du satt und nicht allzu voll. Dann kannst du aufhören. Schiebe also den Teller beiseite. Stehe auf und warte einige Minuten. Spüre weiter in dich hinein. Möchtest du noch etwas essen oder hat das Brot seine Attraktivität verloren? Dann iss' erst wieder, wenn dein Hunger auf deiner Skala bei circa drei ist. >>


Das klingt wunderbar und völlig gesund. So muss das doch funktionieren, oder? Nein, so funktioniert es bei einer manifesten Essstörung leider nicht. Denn dann versuche ich, zu genießen und glaube, dass ich es irgendwie besser machen könnte. Dann esse ich bis acht und denke, dass ich eigentlich bestimmt schon bei neun bin und dass es jetzt auch egal ist und ich versagt habe. Dann ist mein Perfektionismus so präsent, dass ich es nicht richtig machen kann, weil mir niemand sagt, was richtig und was falsch ist.


Wenn ich also wirklich genesen will, dann lasse ich vollständig los. Dann esse ich mein Nutellabrot. Und danach esse ich noch eines und noch eines und noch eines und noch eines – vielleicht sogar vor dem Fernseher ... oder am Schreibtisch. Es geht nicht ums Genießen und darum, herauszufinden, wann meine Sättigung kommt. Die kommt nämlich erst nach dem vielleicht zwölften Nutellabrot. Und das ist völlig in Ordnung so! So sieht richtige Recovery aus. Das ist Extremhunger. Und der muss erst einmal gestillt werden – mit mindestens 2.500 bis 3.000 Kalorien am Tag. Bei mir waren es anfangs meist mehr als 6.000, oft auch 10.000 Kalorien. Es gibt hier keine Ober-, nur eine Untergrenze. Really? Really.


Denn: Wie kann ich satt sein, wenn ich immer nur den Boden meines noch sehr großen Eimers fülle? Wenn ich erst einmal wie verrückt in mich hineinspüren muss? Wenn ich satt bin, dann spüre ich das! Oh fucking yes. Dann ist der Eimer voll. Dann will ich nicht mehr weiteressen. Dann reicht's. Dann, erst dann schiebe ich den Teller von mir weg und gehe gerne (!) Zähne putzen. Dann, nur dann denke ich im Anschluss nicht mehr darüber nach, was ich mir noch "Kleines gönnen könnte ...".


Nur durch diese Art des "Auffüllens" konnte ich feststellen, dass ich meine ganz eigene Art habe, zu essen. Ich schlinge nicht, aber ich bin auch niemand, der seine Brötchenhälfte achtmal zurück auf den Teller legt, bevor er sie dann endlich aufgegessen hat. Ich kaue auch keinen Bissen dreißigmal, auch wenn mir die Theorie (!) von Ayurveda einleuchtet. Das bin ich nicht. Also bleibe ich so, wie ich bin und esse so, wie ich esse. Ich rieche nicht am Essen, ich lasse es mir nicht auf der Zunge zergehen. Ich esse auch gerne mal im Stehen oder schiebe mir rasch einen Schokoriegel während dem Küche aufräumen zwischen die Kiemen. So what? Ich schlüpfe in kein neues Korsett, ich bin einfach ich. Nur so kann ich gesund und vor allem satt sein.


Natürlich zählt dazu, dass ich esse, worauf immer ich lustig bin. Denn welche Erfahrung ich auch gemacht habe, ist: Ich kann mich gefühlt satt essen, aber wenn ich nicht das esse, was sowohl Körper als auch Seele brauchen, werde ich nicht wirklich satt. So hatte ich mich zum Beispiel während meiner Clean-Eating- oder Keto-Phase immer satt gegessen (sogar mit einer Packung Cashews am Abend nach allen Mahlzeiten) – und trotzdem überkamen mich Essanfälle, mit denen mein Körper versuchte, meinen Energiehaushalt aufzufüllen! Kein Wunder, dass ich verwirrt war. Dass ich mich wieder einmal auf die Suche nach einer psychologischen Erklärung gemacht habe. Nach dem Trauma, dass es doch bestimmt in mir geben muss und dass ich aufarbeiten muss, um endlich genesen zu können. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass ich einfach nur nicht satt war, obwohl sich mein Körper doch in diesen Cashew-Tüte-im-Bauch-Momenten irgendwie satt anfühlte.


Du siehst, vollumfängliche Sättigung ist ein sehr komplexes Thema. Aber wenn ich jetzt einmal in mich gehe und meinen Beitrag Revue passieren lasse, dann lässt es sich doch irgendwie zusammenfassen.


Ich versuche es einmal für dich:


  1. Iss' so viel, wie du nur essen kannst. Wenn du nicht mehr ans Essen denken musst, dann ist das ein wichtiger Schritt.

  2. Iss' genau das, worauf deine Seele und dein Körper Lust haben. Es ist nichts, worüber du nachdenken musst. Es springt dir sozusagen als Bild in dein Bewusstsein. Iss' so viel du kannst von diesem Lebensmittel. So lange, bis du es leid bist, es weiteressen zu müssen.

  3. Iss' genau so, wie du bist. Iss' so, wie du essen möchtest. Lass' dir von niemandem vorschreiben, wie du essen sollst. Alles ist richtig.

  4. Fülle dein Inneres, dein Herz, mit allem, was dir gut tut. Frage dich, wie du dich fühlen möchtest und dann tue alles dafür, dass du dich so fühlen kannst.


Ich weiß, es ist ein langer Weg, da anzukommen, wo ich heute bin. Ich bin ihn gegangen. Das Wichtigste ist, dass du gut zu dir bist. Dass du dich so sein lässt, wie du bist. Dass du dich zurückziehst und schaust, wie du für dich da sein kannst. Ist es auch das allabendliche Film-im-Bett-Ritual? Ist es vielleicht sogar schon Meditation? Achtsamkeitstraining? Malen? Yoga? Spaziergänge in der Natur? Was auch immer sich gut anfühlt, mach' weiter damit. Du hast es verdient. Du bist es wert. Ich schwöre dir, nur so wirst du ankommen: mit dir an deiner Seite. Mit niemandem sonst.




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