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Ein ganzes Jahr ohne Essstörung!

Ein Beitrag von Steffi


Ich feiere heute meinen 1. Geburtstag! Ein ganzes Jahr in Freiheit! Ich habe so viel gelernt auf meinem Heilungsweg und viele meiner früheren Überzeugungen über Bord geworfen … Ich möchte gerne ein paar meiner Erkenntnisse teilen, auch wenn Ina über das meiste schon geschrieben hat! Die Tatsache, dass ich das alles genauso auch erlebt habe, unterstreicht nur die Richtigkeit!


Ich war lange davon überzeugt, dass ich meinen Körper kontrollieren kann und muss, weil er sonst nicht funktioniert! Und genauso überzeugt war ich davon, dass dünn sein alles ist. Ich dachte, dass ich meinen Körper gestalten kann wie ich will – und ehrlich gesagt, es wird einem ja auch überall erzählt. "Du musst nur so und so essen und deine Muskeln trainieren und dies und jenes machen und dann hast du die top Figur und bist glücklich!" Ich habe mich lange genug in diesem Wahnsinn verloren … Mittlerweile habe ich zum Glück verstanden, dass der Körper sehr wohl in der Lage ist, sich selbst zu regulieren. Ich habe verstanden, dass mein Körpergewicht genauso wie meine Schuhgröße, Haarfarbe, Augenfarbe oder die Form meiner Knochen in meiner Genetik einprogrammiert ist und dass ich natürlich mein ganzen Leben damit verbringen kann, mich selber zu bekämpfen, dass mich das aber todunglücklich macht. Ich habe verstanden, dass Glück und Zufriedenheit nicht in Äußerlichkeiten zu finden sind. Das klingt sehr abgedroschen, aber es ist wirklich so. Glück kann nur in einem selbst entstehen! Ich durfte erfahren, dass es meinen Mitmenschen herzlich egal ist, wie ich aussehe und wieviel ich wiege. Und durfte sogar erfahren, dass es mir selbst mittlerweile egal ist. Ich habe wie jeder andere auch gute und schlechte „Körpertage“, z. B. bevor ich meine Periode bekomme. Da fühle ich mich immer schwerfällig und aufgedunsen. Aber ich weiß, dass es vorbeigeht und es beeinflusst mich nicht mehr.


Ich war lange davon überzeugt, dass Essstörungen psychische Erkrankungen sind. Ich dachte, dass meine Angst vor dem Verlassen werden, davor, nicht gut genug zu sein oder nicht geliebt zu werden, die Ursache meiner ES ist. Wie ich heute weiß, ist das Quatsch. Die Angst vor Ablehnung, vor dem Alleinsein und verlassen zu werden ist die Urangst der Menschen! Alleine zu sein hieß früher, zu sterben. Natürlich haben wir diese Angst! Die hat jeder! Das ist kein Privileg von Essgestörten!


Ich dachte auch, dass die vermeintliche Vernachlässigung als Kind oder die gefühlte Konkurrenz mit meiner Schwester mich irgendwie traumatisiert haben müssen und Grund für meine ES sind. Aber auch das ist Quatsch. Ich kenne niemanden, der nicht schon mal verletzt, enttäuscht oder verlassen wurde. Das ist genauso wenig ein Privileg von Essgestörten! Jeder hat doch die eine oder andere Schraube locker!


Ich habe jahrzehntelang versucht durch das Auseinanderpflücken meines Innersten meine Essstörung zu heilen. Versteht mich nicht falsch! Es ist wichtig und richtig, sich mit sich selber auseinanderzusetzen und das sollte JEDER machen. Sich und seine Reaktionen zu verstehen und zu hinterfragen schadet grundsätzlich nie! Die Annahme jedoch, durch Psychoarbeit deine ES loszuwerden, hält dich nur in ihr gefangen! Das wird dich nicht von deiner Essstörung befreien! Die Essstörung wirst du nur los, wenn du sie loslässt! Wenn du ohne Restriktion isst! Wenn du die Kontrolle aufgibst und deinen Körper machen lässt. Er muss entscheiden dürfen, wann er was essen möchte und wieviel er zunimmt oder auch nicht!


Ich war lange davon überzeugt, dass Essen nur ein Symptom ist für irgendwas. Nach diesem „irgendwas“ habe ich verzweifelt gesucht. Ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit einer Psychotherapeutin, die mir klar machen wollte, dass bei Magersucht der Hunger eine (symbolische) Bedeutung hat! Dass der Hunger für etwas steht … Essen ist ein Symptom und man muss die Ursache finden um heilen zu können … Ich finde es so schrecklich, dass sogar die, die einem helfen sollen oder wollen, so einen Mist verzapfen. Wenn ein Körper unterernährt ist, und das kann er bei JEDEM Gewicht sein, dann ist Hunger schlicht und ergreifend Hunger! Auch meine Fressanfälle waren nicht Ausdruck von was weiß ich was für einem Problem, sondern HUNGER! Sie waren nichts, was ich bekämpfen musste, sondern der Versuch meines Körpers zu überleben!


Ich war auch davon überzeugt, dass man nie ganz gesund werden kann. Dass man mit der Essstörung leben lernen und die Symptome kontrollieren kann. Auch das wird einem immer und überall eingeredet. Man hört immer wieder, dass die Essstörung sich meldet, wenn irgendwo ein Problem ist, das man nicht sehen möchte. Man könne dann die Essstörung als Wegweiser sehen, um diese verdrängten Probleme zu finden oder so ähnlich. Ich halte auch das für ziemlichen Unsinn! Ich sage nicht, dass ich nie essgestörte Gedanken habe. Natürlich meldet sich ab und an diese Stimme in meinem Kopf, die sagt, dass ich zu dick bin, dass ich dies oder jenes jetzt vielleicht nicht essen sollte oder dass ich doch bitte danke mal wieder Sport machen sollte. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich irgendein Problem verdränge, sondern ist schlicht und ergreifend Gewohnheit. Ich habe mir 25 Jahre lang diese Denkweise angewöhnt und solche Gedanken verschwinden nicht über Nacht! Der Unterschied ist: Ich glaube diese Gedanken nicht mehr und handle anders. Ich flippe nicht bei jedem essgestörten Gedanken aus und fange an, Probleme zu suchen wo keine sind oder grabe meine Psyche um. Die befreiende Tatsache ist: Sie sind da, weil ich es mir antrainiert habe und nicht weil irgendetwas nicht stimmen könnte. By the way: Es gibt selbstverständlich auch in meinem Leben so manches, was nicht stimmt! Das weiß ich aber auch so …


Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass es kein emotionales Essen gibt und Binge-Eating keine drohende Folge der Recovery ist. Ich weiß noch, wie ich Ina ganz verzweifelt eine entsprechende Mail geschrieben habe, weil ich überzeugt davon war, ins Binge-Eating zu rutschen oder ein emotionaler Esser zu werden. Sie hat darüber auch schon Blogbeiträge geschrieben und (mir) dazu sogar ein Video gemacht (bitte unbedingt lesen/schauen)! Ja, sie hatte Recht! Das gibt es nicht!


Eine restriktive Essstörung ist ein Ausschlußkriterium für die Diagnose Binge-Eating – schreibt euch das bitte auf!!! Klar, die Angst haben wir alle, aber es wird nicht passieren. Ich will Inas Worte nicht kopieren, aber es ist einfach so: Wenn mir langweilig ist, dann ist mir langweilig. Wenn ich wütend bin, bin ich wütend. Und wenn ich traurig bin, bin ich traurig. Aber ich komme nicht auf die Idee, zu essen! Ich esse, wenn ich hungrig bin oder wenn ich Lust darauf habe. Emotionales Essen ist ein Konstrukt von Menschen, die sich Essen verbieten – und das tun auch die, die „intuitives Essen“ als Diät verkaufen! Da darf man nämlich nur dann essen, wenn man auf der perfekten Hungerskala ist und nur so viel, bis man perfekt satt ist! Dadurch geben sie dem Essen erst eine Bedeutung. Dadurch wird Essen emotionalisiert!


Ich war auch davon überzeugt, dass ich an mir arbeiten muss, dass ich mich lieben muss, dass ich irgendwo in mir das Bedürfnis, mich um mich zu kümmern, finden muss, um die Essstörung irgendwann nicht mehr zu brauchen. Auch das ist Quatsch. Ich habe so sehr versucht, mich zu ändern, so zu sein, wie ich gerne wäre, mir Selbstliebe einzureden usw. Aber ich habe mich nicht verändern können, um dann nebenbei gesund zu werden – ich musste gesund werden, um mich zu verändern. Ich musste essen und meinen Körper heilen lassen, um auch meinen Geist und meine Seele zu heilen. Und überraschenderweise bin ich jetzt so viel näher an meiner Wunschvorstellung von mir selber dran, als ich es jemals zuvor gewesen war.


Die wohl größte Fehlannahme war, dass ich dachte, dass ich das nicht kann. Dass ich nicht loslassen kann. Dass ich nicht gesund werden kann. Ich habe mir das über so viele Jahre eingeredet, dass das meine Wahrheit war. Ich habe lange auf den Moment gewartet wo ich mich vielleicht doch bereit fühle, die ES loszulassen. Dass ich es irgendwann wie durch ein Wunder plötzlich kann. Aber dieser Moment wird niemals kommen, es wird sich niemals gut anfühlen. Ich musste loslassen, ohne zu wissen, dass ich es kann, um dann zu sehen, dass ich es kann.


Ich durfte alle diese Erfahrungen machen und Erkenntnisse gewinnen, weil ich einfach irgendwann losgegangen bin. Die Crux an der Sache ist, dass man manche Erfahrungen machen muss, um es zu verstehen. Nicht versuchen oder wollen oder darüber nachdenken, sondern tun! Aber wenn man nicht weiß, was am Ende dabei rauskommt, wo der Weg hin geht, traut man sich nicht loszugehen. Hier muss man tatsächlich blind vertrauen. Und losgehen! Die Erfahrung machen! Und dann wissen, dass es richtig war!






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