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Gastbeitrag: die Angst vor der Einzigartigkeit – und Freiheit.

Ich freue mich, euch heute einen Beitrag lesen lassen zu können, den eine junge, liebenswerte Leserin meines Blogs und sehr aktive Teilnehmerin meines Forums mit euch teilen möchte. Ihr Name ist Samira Kassel. Alle Forum-Teilnehmer*innen kennen sie, ihre Meinung und ihren Weg schon recht gut.


Samira hat sich mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen das Vergleichen vor allem während der Recovery einer Essstörung auf unser Leben hat – und welche Möglichkeiten sich uns eröffnen, wenn wir uns bewusst werden lassen, dass uns das Loslassen dieser kontraproduktiven und teils unbewussten Gedanken auch eine immense Freiheit bietet.


Lest selbst, was Samira schreibt:


Im Laufe der Essstörung bin ich immer wieder an den Punkt gekommen, mich mit anderen zu vergleichen. Ich würde sogar behaupten, das Vergleichen stand am Anfang von allem. Natürlich war es nicht der Hauptantriebsmotor, aber ein Katalysator. Die anderen Mädchen in meiner Klasse waren schmaler, leichter, weniger fraulich. Meine große Schwester war sportlicher, schmaler, graziler und kritisierte noch dazu meinen Süßigkeiten-Konsum.


Ich könnte jetzt so fortfahren und erzählen, mit wie vielen Menschen ich mich im Laufe der letzten Jahre in Bezug auf mein Essverhalten, mein Sportpensum, meine Uni-Noten und meine Leistungsfähigkeit verglichen habe. Doch darum soll es in diesem Blogbeitrag gar nicht schwerpunktmäßig gehen. Schließlich wissen wir alle längst, dass der ständige Vergleich mit anderen toxisch ist und uns von uns selbst entfernt. Dass er uns taub werden lässt für unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Ziele und Vorstellungen. Spätestens seit Inas Blogbeitrag „Warum du das Vergleichen in der Recovery sein lassen solltest" ist wohl klar, dass in der Recovery das Vergleichen besonders hinderlich für den Genesungsprozess ist, ihn quasi unmöglich macht.


Also haben wir uns befreit und ängstlich zugleich auf den Weg gemacht und all die vermeintlichen Kontrollmechanismen am Eingang der Achterbahn in die Freiheit zurück gelassen. Aber dann, wenn unser Fall begonnen hat und wir den Fallschirm gefunden haben, der uns sanfter ins große Unbekannte hinabsegeln lässt, schauen wir hektisch nach links und rechts. Gibt es dort andere Fallschirmspringer, die es ähnlich machen? Fliegen sie ihre Pirouetten nur linksrum oder gibt es auch welche , die sich rechtsrum drehen? Ist der eigene Fallschirm vielleicht kleiner als der der anderen? Oder größer? Oder bunter? Fliege ich in die richtige Richtung? Bin ich zu schnell oder zu langsam?


Und dabei vergessen wir, dass es niemanden gibt, der „in unserer Haut steckt". Jeder Körper ist anders, jeder Lebensweg hat mit unterschiedlichen Luftströmungen, Strömungsabrissen und Aufwinden zu kämpfen beziehungsweise zu arbeiten. Wir können uns inspirieren, motivieren und ermutigen lassen. Aber niemand kann uns bis ins kleinste Detail zeigen, wie unser Leben, unsere Genesung zu funktionieren hat. Das macht im ersten Moment eine unglaubliche Angst, die beinahe schon einer ausgewachsenen Panikattacke gleichen kann. Waren doch Kontrolle, Sicherheit und Perfektionismus bisher die Schnüre, die die Marionetten unserer selbst in Bewegung gehalten, sie überhaupt erst funktionsfähig gemacht haben. Zumindest glaubten wir das.


All das von heute auf morgen loszulassen gleicht einem Bunge-Jumping-Sprung ohne Gummiseil. Und dann soll man sich bei diesem Sprung noch nicht einmal mehr an irgendjemandem orientieren können, an jemandem, der es so macht wie man selbst? Dem wir es einfach nachmachen können?


Ja, genau so ist es. Niemand kann uns unseren Weg vormachen, weil jeder seinen eigenen Weg finden muss. Und genau darin liegt letztendlich eine unglaubliche Freiheit, eine Leichtigkeit, die man erst auf den dritten, vielleicht auch erst auf den vierten Blick erkennt. Das ist auch kein Wunder, schließlich haben wir schon im Kindergarten und in der Schule vermittelt bekommen, dass man bestimmte Normen, Regeln und Vorstellungen erfüllen muss, um „gut" zu sein. Insbesondere die Schulzeit und später auch die ersten Semester an der Uni haben zumindest mich diesbezüglich intensiv geprägt und „geschädigt".


Ich denke aber auch, jeder wird nur so sehr geschädigt, wie er sich schädigen lässt. In der Regel passiert das anfangs ganz unbewusst und wenn man es dann erkennt, sitzen die Glaubensätze schon fest. Aber es ist nie zu spät, bewusst dagegen zu arbeiten und sich seiner individuellen, mitunter auch „gefährlich" wirkenden Freiheit bewusst zu werden. In dem Moment, in dem wir erkennen, dass es ab und an im Leben Situationen gibt, in denen wir völlig auf uns alleine gestellt sind, in denen uns niemand eine How-to-do-Auflistung geben kann, können wir rein gar nichts falsch machen. Denn niemand weiß, was für uns richtig ist.


Also Feuer frei! Do what the f*** you want. Das was uns Angst macht, die Bodenlosigkeit ohne Seil und Netz, ist zugleich die größte Freiheit unserer Individualität. Du kannst nicht scheitern, höchstens zehntausend Wege entdecken, wie es nicht funktioniert.


Aber von Tag zu Tag wirst du mehr spüren, dass es dein Weg ist – ein Weg auf dem du am Ende siegen wirst.


In diesem Sinne, lasst uns fallen und fliegen!


Viel Mut wünscht euch eure Samira


Liebe Samira, ich danke dir dafür, dass du deine Gedanken zu diesem Thema mit uns geteilt hast. Und ich hoffe, dass ihr alle, die ihr diesen Beitrag lest, etwas für euch mitnehmen könnt. Ihr seid alle einzigartig. Ihr allein wisst instinktiv, was ihr wie und in welchem Umfang tun könnt. Vertraut auf eure Intuition, auf eure innere Weisheit. Stellt euch nicht permanent in Frage, sondern zeigt und beweist euch selbst, dass ihr euch für voll nehmt. Macht ein Ausrufezeichen hinter eure Handlungen. Selbstvertrauen beginnt mit Selbstbewusstsein. Macht euch eurer Einzigartigeit bewusst – und nutzt diese unfassbare Freiheit, die euch euer Selbst bietet. Auf dass ihr den Raum spüren könnt, den euch dieses Selbst bereithält. Ein Raum voller Möglichkeiten und Wege.



Für alle, die mehr von Samira lesen möchten: Folgt ihr auf Instagram @samirakassel oder lest ihre Bücher 4 Reisende, 4 Räder & jede Menge Neugier: Outdoor-Tour durch Europa – Erleben, Kochen, Backen und Übers Wasser laufen: SUP-Bord-Trekking mit Hund und Hausstand auf der Loire.

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