top of page

Essanfall oder doch "einfach nur" Hunger?

Aktualisiert: 24. März 2022

Ich habe ein Experiment gewagt. Ein Essperiment sozusagen. (Die Texterin in mir rollt gerade furchtbar die Augen. Aber ich denke: Auch ich darf mal solche Kalauer bringen. Nobody is perfect!) Was also wollte ich herausfinden und was habe ich dafür genau getan?


Ich wollte einmal herausfinden, ob meine These, die ich hier in meinem Blog so vehement verteidige, auch wirklich stimmt – und zwar im genesenen Zustand. Ich wollte mir noch einmal selbst beweisen, dass mir der Körper ganz genau sagt, was er wann braucht. Dass er sich genau das an Energie nimmt, was er für seinen Stoffwechsel benötigt. Dass er intelligenter ist als ich und ich einfach nur auf ihn hören muss, was ich ja eigentlich sowieso schon tue. Ich habe mich also in die alte Welt der Restriktion gewagt, um eben genau das auf den Prüfstand zu stellen.


Deshalb zu erst einmal frei nach Thomas Gottschalk:


Liebe Kinder und essgestörte Leser*innen vor dem Fernseher, bitte nicht nachmachen!


Ich bin gesund – psychisch und physisch. Nur deshalb habe ich mir zugetraut, dieses Wagnis einzugehen. Zudem hatte ich mir einen klaren zeitlichen Rahmen gesetzt: eine Woche, mehr nicht.


Was also habe ich getan – und was ist passiert?


Ich habe tagsüber wohlüberlegt und bewusst gefastet. Ich habe die erste "Mahlzeit" bis in den Mittag hinausgedehnt und dann auch nur (für meine Verhältnisse) sehr wenig (z. B. 400 ml Haferdrink Vanille und eine Scheibe Marmelandenbrot) gegessen. Am Nachmittag gab es dann nochmal etwas Kleines (z. B. eine Hand voll Nüsse und ein Brot mit Aufstrich und Gemüse oder ein Müsli mit Obst). Am Abend dann habe ich wie immer für meine Familie gekocht und eine ganz normale Portion gegessen.


Am ersten Tag war das alles kein Problem: Ich war satt, zufrieden und konnte ohne (mentalen) Hunger ins Bett gehen. Ab dem zweiten Tag aber wandelte sich schon das Blatt: Gleich nach dem Abendessen kamen die Gedanken an Schokolade und Kekse und das Gefühl, mir irgendetwas in den Mund stecken zu müssen. Und das, obwohl ich doch gerade erst vom Esstisch aufgestanden war und eine ordentliche Portion mittel- bis hochkalorisches Abendessen in mir hatte. Aha! Mein Geist führte mich also in Richtung Küche, während mein Ego mir sagte, dass das ja nicht sein kann, immerhin sei ich doch satt. Da ich ja nunmal eine genesene Exessgestörte bin und all' diese Prozesse kenne, konnte ich an diesem Punkt natürlich loslassen: Ich konnte meinem mentalen Hunger folgen und mich an Broten mit Erdnussbutter und Schokoladencrème sattessen. (Wieder aha! Schnelle Energie, viel Fett, viel Zucker!) Und damit meine ich: essen, bis ich nicht mehr essen wollte.


Das Ganze hat sich die darauffolgenden fünf Tage wiederholt. Ich aß tagsüber wenig und nahm mir nach dem Abendessen das, was ich tagsüber nicht gegessen hatte. So aß ich (außer an Tag eins) täglich meine 2.000 bis 3.000 Kalorien – also meine ganz normale tägliche Kalorienzufuhr. Heute esse ich natürlich wieder komplett nach meinen (mentalen) Hungersignalen und – was für ein Zufall – das große Essen am Abend bleibt aus beziehungsweise hält es sich in Grenzen. Logisch, ich esse ja auch meine 2.000 bis 3.000 Kalorien am Tag. Warum sollten mein Körper oder mein Kopf mehr wollen, wenn es genau das ist, was sie für ein perfektes Leben brauchen? (Achtung! Ich bin genesen und meine Auffüllphase ist inzwischen drei Jahre her! In der Recovery braucht der Körper weit mehr als 2.000 bis 3.000 Kalorien täglich!)


Und jetzt kommen wir zum Punkt.

Denn: Was hätte mein essgestörtes Ich von alldem gehalten?


Mein essgestörtes Ich wäre bitterböse mit mir gewesen. Es hätte mir vorgeworfen, dass ich nicht diszipliniert genug bin. Es hätte das viele Essen am Abend nach dem Abendbrot als Essanfall bezeichnet. Es hätte mir am Folgetag verboten, irgendetwas zu essen und mir gesagt, dass ich jetzt gefälligst dieses übermäßige Essen abtrainieren und dafür 10 bis 15 Kilometer durch den Wald joggen muss. (Wodurch es einen noch krasseren Bedarf an Energie produziert hätte, wohlgemerkt!) Es hätte sich hundsmiserabel, klein, schwach und hilflos gefühlt. Es hätte versucht, zu verstehen, warum ich essen muss, obwohl ich "keinen" Hunger habe. Es hätte wie eine Verrückte weiterhin an sich gearbeitet, Bücher gelesen, Traumata gesucht. Es hätte nicht verstanden, ...


... dass dieses Essen am Abend verdammt nochmal einfach nur Hunger ist!


So ist das.


Ich hoffe, du siehst jetzt, worauf ich mit meinem Experiment hinauswollte. Ich möchte dir noch einmal ganz klar zu verstehen geben, dass


  1. sich dein Körper genau das nimmt (oder versucht zu nehmen), was er braucht, um zu funktionieren – im besten Fall sogar um ganz wunderbar gesund und voller Kraft und Energie zu leben.

  2. deine Gedanken ans Essen Hunger sind – mentaler Hunger, um dem Kind einen Namen zu geben.

  3. du nicht mehr in deinem Unterbewusstsein und deiner Psyche weitergraben musst, um zu verstehen, warum du Essanfälle hast. Sobald du (genug) isst, erkennst du, dass all' die Jahre Therapie und die Arbeit an dir selbst gefruchtet haben – und du endlich deine Vergangenheit loslassen kannst.

  4. dass du also völlig normal und nicht verrückt bist, dass dein Körper und deine Psyche völlig normal, ja, sogar gesund (!!!) sind, eben weil sie sich genau das nehmen, was sie brauchen ... im schlimmsten Fall auch durch "Essanfälle", die ja – wie wir jetzt wieder gelernt haben – gar keine sind.

  5. du deine Essstörung nur mit Erfolg bekämpfen kannst, wenn du endlich anfängst, zu essen.

Psychotherpie ist wichtig und wertvoll – aber sie hilft dir nicht, wenn du den Extremhunger nicht anfängst, zu stillen. Den Hunger, den du hast, weil du dich viel zu viele Jahre restriktiv ernährt hast. Ihn zu stillen bedeutet, über Wochen hinweg zu essen, zu essen und zu essen. Und zwar alles, wonach Körper und Seele schreien. So wirst du gesund.


Ich möchte dazu noch einmal betonen, dass ich dieses Wagnis in puncto Restriktion nur eingehen konnte, weil ich seit drei Jahren kerngesund bin. Sowohl das Fasten als auch das Zählen haben mich nicht getriggert. Im Gegenteil: Ich habe einmal mehr erkannt, wie verrückt es ist, genau das zu tun.


Ich bin unendlich dankbar für meinen heutigen Status quo. Dafür, dass mich mein Körper lenkt und leitet. Dass er mich liebt und mir dafür, dass ich ihm gebe, was er braucht, Gesundheit und Wohlgefühl schenkt. Ja, ich fühle mich sehr, sehr wohl in meinem Körper. Und das nur, weil ich mich im Januar 2018 getraut hatte, in dieses rabenschwarze Loch namens Recovery zu springen.


Ich wünsche mir von Herzen, dass ich dich mit meinen Worten ermutigen kann, es mir gleichzutun. Es lohnt sich. Jeder kann das. Auch du.

bottom of page