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Körpervertrauen: Extremhunger und mentaler Hunger.

Aktualisiert: 30. Juni 2021

Eigentlich unvorstellbar, ich habe meinem Körper vierzehn Jahre lang nicht vertraut. Dabei sind er und ich doch eins. Oder? Ich dachte, ich kann ihn formen, wie es mir gefällt. Bin einfach davon ausgegangen, dass es einfache Mathematik ist.


Die Formel:


Gesundes, portioniertes Essen + Sport = Gesundheit + Astralkörper.


Dem ist nicht so, das weiß ich heute. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Und trotzdem wird uns das tagtäglich genau so von Medien, Influencern, und ja, auch von Medizinern verkauft. Dabei bin ich heute kerngesund, und zwar ganz ohne 5-Portionen-Obst-und-Gemüse-Regel und mit oft weit mehr als der täglichen Kalorienmenge von 2.000 Kalorien, die uns als Durchschnitt für einen Erwachsenen vermittelt wird, ob auf der Haferflockenpackung oder im Apothekenheftchen. Heute habe ich eine regelmäßige Periode, heute zeigt mein Blutbild keinerlei Auffälligkeiten, heute bin ich seit gefühlten Ewigkeiten schubfrei und nehme keinerlei Medikamente für (oder gegen?) meinen Morbus Crohn. Außerdem ist mein Kopf frei von schwarzen Gedanken.


Zufall? Ich glaube nicht. Denn als ich noch pedantisch auf meine Ernährung geachtet und fünf- bis sechsmal die Woche Sport gemacht hatte, war ich krank. Ich hatte keine Periode, musste Immunsuppressia schlucken und lange, ausgeprägte depressive Phasen waren sicherlich alles andere als fremd für mich. Das sind Fakten. Aber leider sagt einem das niemand, schon gar kein Therapeut oder Arzt. Offiziell gilt immer noch, dass ein gesunder Körper mit einer gesunder Ernährung einhergeht. Was passiert, wenn man mit ebendieser übertreibt, darüber wird geschwiegen. Denn wer darf heute noch für den bösen Zucker in die Presche springen?


Wie immer und überall gilt: Die goldene Mitte ist das Ziel. Aber die ist nach jahrelanger Selbstkasteiung nicht auf die Schnelle zu finden. Da muss erst einmal die andere Seite der Waagschale vollends belastet werden. Und genau das weiß unser Körper und gibt uns Signale. Wir müssen nur auf sie hören. Er sagt uns genau, was er braucht, um seine Funktionen wieder auf Vordermann zu bringen, den Stoffwechsel anzukurbeln. Meist ist das zu Beginn der vollständigen Heilung Zucker, Zucker und nochmals Zucker – und zwar in einem extremem Umfang.


Extremhunger oder: ein wochenlanger Essanfall, die sogenannte "Wiederauffüllphase".


Nachdem ich mir im Januar letzten Jahres zum ersten Mal die vollständige Erlaubnis gegeben hatte, mich vollumfänglich zu sättigen – körperlich und geistig, endete ich in einem wochenlangen Essanfall. Der Unterschied war der, dass ich zum ersten Mal ein anderes Wort für diese Art von übermäßigem Essen hatte: Extremhunger. Und genau das machte für mich Sinn. Mein Körper hatte, nach vierzehn Jahren Restriktion, das Verlangen nach schneller, aufputschender Energie. Mein Geist hatte, nach vierzehn Jahren Restriktion, das Verlangen nach all' dem, was ich mir nie zu 100 Prozent gegönnt hatte. Mit diesem Wissen konnte ich mich auf das Experiment einlassen. Ich wollte es meiner Essstörung zeigen: Sobald sie mir sagte, dass es jetzt gut sei, aß ich noch mehr – ob ich wollte, oder nicht. Sobald ich auch nur an Essen dachte, stand ich auf und nahm mir genau das, woran ich gerade gedacht hatte und aß es noch im Stehen. Von wegen "Man sollte jeden Bissen x-mal kauen und sich beim Essen hinsetzen, sich Zeit nehmen und genießen ...". Nein, ich musste genau das Gegenteil von dem tun, was ich gewohnt war, zu tun. Ich musste die Dramatik aus dem Essen nehmen.


Hunger oder Sättigung kannte ich in den ersten Wochen meiner Genesung nicht. Ich war dauergefüllt. Von heute auf morgen so viel zu essen, war anstrengend. Selbst die langsamen Hundespaziergänge, die ich ja nun einmal machen musste (laut Minnie Maud sollte jegliche Kraftanstrengung gemieden werden, so dass der Körper endlich zur Ruhe kommt und sich regenerieren kann; googele bitte!), waren mir fast schon zu viel. Trotzdem vertraute ich meinem Körper. "Ich vertraue meinem Körper, er weiß genau, was er braucht und er wird sich mit einem gesunden Stoffwechsel und meinem Wohlfühlgewicht bei mir bedanken", war mein tägliches Mantra. Die Videos im Netz von Tabitha Farrar und Elisa Oras halfen wir übrigens sehr.


Nach gut fünf Wochen kam ich laaangsam an. Die Süßigkeiten der Welt hatten ihren überdimensionalen Reiz verloren. Hätte ich vorher gewusst, wie "schnell" das geht, ich hätte diesen waghalsigen Schritt schon viel früher getan! Selbst mit der fast schon minimalen Zunahme von vielleicht sechs oder sieben Kilo (meine Waage war am ersten Tag meiner Recovery im Mülleimer gelandet) kam ich zurecht.


9. Februar 2018, ca. 3 Wochen nach Start der Recovery.


Die folgenden Wochen gab es keine große Überraschung mehr. Mein Essverhalten normalisierte sich von Tag zu Tag. Der Extremhunger kam immer seltener zu Besuch – im zweiten Monat meiner Recovery vielleicht zweimal die Woche, im dritten dann einmal, im vierten noch seltener. Einen wunderbaren Moment hatte ich, als mir klar wurde, was echte Sättigung bedeutet: nämlich dann aufzuhören, wenn ich wirklich nicht mehr weiteressen will. Dass intuitives Essen bedeutet, eben nicht perfekt zu essen und an einem ganz bestimmten Punkt aufzuhören, sondern einfach nur mit den Nahrungsmitteln und der Menge, die ich verzehre, im Reinen zu sein.


Mentaler Hunger: Wenn mir mein Gehirn noch vor dem Bauch Signale sendet.


Heute esse ich, sobald ich an Essen denke. Es ist für mich das allererste Signal meines Körpers in Richtung "Hunger", es ist mein mentaler Hunger, den ich sehr ernst nehme. Es gibt Tage, da esse ich kein Obst und kein Gemüse – und es fällt mir nicht einmal auf. Es gibt aber auch Tage, an denen ich fast schon gierig bin nach einer saftigen Birne und einer herzhaften Gemüsepfanne. Es ist mir egal, was ich esse. Es ist mir auch egal, wie viel ich esse. Manchmal habe ich kaum Appetit und esse so wenig, dass ich abends noch schnell eine Tafel Schokolade in mich hineinschlinge, ohne es wirklich zu wollen, um meinem Körper aber wenigstens etwas schnelle Energie zu liefern. Manchmal esse ich schon am Vormittag so viel, dass ich keine Lust mehr habe, vor die Tür zu gehen und lieber genüsslich faul zu Hause meines Amtes walte. Es kommt, wie es kommt. Mein Körper weiß genau, was er braucht – und er sagt es mir. Extremhunger habe ich immer noch, aber er zeigt sich sehr selten. Und dann ist es mit einem Bruchteil von dem, was ich früher während einem Anfall verschlungen habe, getan. Es kann vorkommen, dass ich dann am nächsten Tag etwas hadere. Aber das Wissen, dass sich mein Körper immer genau das nimmt, was er braucht, hilft mir dabei, dann einfach ganz normal weiterzumachen und nicht auf die Idee zu kommen, auszugleichen.


Ich wünschte, ich hätte früher das Wort "Essanfall" mit dem Wort "Extremhunger" ersetzt. Ich wünschte, ich hätte früher herausgefunden, dass mentaler Hunger echter Hunger ist. Dass Magenknurren der allerallerletzte Schrei nach Nahrung ist. Es hätte mir so viele Jahre meines Lebens geschenkt ...



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