top of page

Recovery mit Kindern – wie soll das gehen?

Aktualisiert: 3. März 2020

Du bist an dem Punkt angekommen, an dem du es nicht mehr aushalten kannst. Nichts hat dir bisher geholfen, dieser manifesten Essstörung zu entkommen – keine Therapie, keine Ernährungsumstellung, kein Geheimrezept, auf das du so lange gewartet hast. Deshalb hast du dich endlich entschieden, zu springen. Du kennst keinen anderen Weg, der dich gesund macht. Du willst jetzt endlich essen. Immer. Genau das, wonach dein Körper giert. Du willst los- und die Kontrolle deinem Körper überlassen. Du möchtest ihm endlich vertrauen. Die Frage ist nur: Wie soll das funktionieren, wenn du doch ein geregeltes Familienleben hast und regelmäßig am Tisch sitzen und Vorbild sein musst?


Ich hatte mir die Frage – Himmel sei Dank – nicht gestellt. Ich war so am Boden, dass es mir nicht in den Sinn kam, meine Entscheidung, endlich zu essen, vom Familienleben abhängig zu machen. Rückblickend war es auch "kein Problem". Das heißt: Niemand hat etwas davon mitbekommen. Mein Mann wusste es nur, weil ich es ihm gesagt hatte. Mein Junge hatte keine Ahnung davon, dass seine Mama täglich und über viele Wochen hinweg kiloweise Schokolade und Kekse verschlang. Hätte er es herausbekommen, es hätte sicherlich einen Ärger mit ihm gegeben. Schließlich achten wir schon darauf, dass er sich nicht ausschließlich von Zucker ernährt, was er sicherlich gerne täte. Paradox, ich weiß. Ich werde noch darauf eingehen ...


Nun, ich aß also heimlich. Ich hatte eine große Kiste voller Süßigkeiten und ebensolchen Lebensmitteln gefüllt, die ich mir vorher so gut wie nie erlaubt hatte (außer während den verhassten Heißhungerattacken, den lebensrettenden Maßnahmen meines Körpers, endlich das Kaloriendefizit auszugleichen), im Keller versteckt. Sobald sie auch nur etwas leerer wurde, füllte ich sie auf. So hatte ich immer das Gefühl, essen zu dürfen, was sehr wichtig für mich war. Ich lief also permanent in den Keller und nahm mir genau das, worauf ich Lust hatte. Manchmal aß ich gleich im Keller, manchmal versteckte ich die Riegel schnell unter dem Sofakissen, sobald mein Kleiner hereinspazierte, und sehr oft aß ich, wenn ich alleine war. Schon am ersten Tag spürte ich, dass das heimlich essen gar nicht mehr schlimm für mich ist. Ich musste nicht zittern, ich musste nicht schlingen. Denn: Ich hatte mir offiziell die vollumfängliche Erlaubnis gegeben, zu essen – wann immer ich möchte, was auch immer ich möchte, in genau der Menge, die ich möchte.


Am Tisch saß ich trotzdem ganz brav, auch wenn es mir monatelang sehr, sehr schwer gefallen war, gesunde Lebensmittel auch nur zu riechen. Ab dem Moment, ab dem ich ihm vertraute, waren seine Signale lautstark und somit nicht mehr überhörbar. Entsprechend stocherte ich bei den Familienmahlzeiten mehr oder weniger nur im Essen herum, um dann später, wenn alle wieder ihren Beschäftigungen nachgingen, meinen Hunger mit Süßem zu stillen. Das war tatsächlich völlig in Ordnung für mich, denn ich wusste, wofür ich all' das machte. Ich wusste, es ist der einzige Weg, endlich gesund zu werden. Die Lust nach "normalem" Essen wie Nudeln, Fleisch und Co. kam nach ungefähr einem halben Jahr zurück.


Was mir im Umgang mit meinem Jungen in dieser Phase sehr half, war die Tatsache, dass es mir trotz aller Umstände psychisch so viel besser ging. Dadurch, dass ich mir plötzlich Vertrauen schenkte, dass ich nicht mehr restriktiv und rigide durchs Leben lief, war ich plötzlich ein völlig anderer Mensch. Ich war frei. Das heimliche Essen machte mir, wie beschrieben, nichts aus. Das Gefühl, auf allen Ebenen gesättigt zu sein, erfüllte mich. Natürlich war die Angst vor der Zunahme gerade am Anfang unfassbar groß. Aber je mehr ich spürte, dass sich der Hunger nach Süßem von alleine reguliert und die Gier mit der Erlaubnis schwindet, desto besser konnte ich damit umgehen. Nach einigen Monaten spürte ich bereits, dass das Gewicht stagniert, sich der Hunger normalisiert. Kaum einer hatte meine Gewichtszunahme bis dato bemerkt. "Schlimmer" konnte es also nicht mehr werden. Das Schönste: Ich war nicht mehr die, die ihre Laune abhängig von ihrem Essverhalten machte und somit viel ausgeglichener war. Ich hatte plötzlich mehr Raum für mein Kind, mehr Verständnis und Einfühlungsvermögen.


Der Kleine war zu der Zeit dreieinhalb bis vier Jahre alt. Er verstand also schon genug, um mitzubekommen, dass sich seine Mutter veränderte. Aber er fragte mich nie, warum ich plötzlich auch einen Nachtisch aß oder mir auf einmal zum Frühstück Schokoladenmüsli erlaubte, anstatt Joghurt mit Obst zu essen. Für ihn war das alles einerlei. Ich habe definitiv auch in Bezug auf sein Essverhalten dazu gelernt. Ja, mein Mann und ich achten darauf, dass er sich nicht nur von Zuckrigem ernährt, was er gerne tun würde. Aber wir sind sehr offen. Er hat ein eigenes Glas gefüllt mit Süßigkeiten, an das er immer rankommt. Unfassbarerweise hat er (heute fünfeinhalb) es noch nie geöffnet, ohne uns vorher zu fragen. Ich denke, weil er uns vertraut und weiß, dass wir nur "nein" sagen, wenn er wirklich schon genug Süßigkeiten hatte und das Bauchweh oder der nächste Zahnarztbesuch nicht fern sind. Ja, er isst sehr ausgewählt. Und gleichzeitig ist er kerngesund, ein kleines Muskelpaket ohne ein Gramm Fett zu viel und mit einem Gebiss, das Zahnärzte zum Strahlen bringt. Er hört auf seinen Körper. Und ich versuche, ihn dabei zu unterstützen.


Ich habe auch viel während meiner Recovery in puncto Essenswahl gelernt. Heute esse ich zum Beispiel kaum noch Obst. Ich habe keinerlei Verlangen danach und tue ich es doch ab und zu aus altern Mustern heraus, dann geht es mir anschließend körperlich nicht sehr gut. Außerdem meide ich Lauch, Kohl und sonstiges schwer verdauliches Gemüse, das ich früher zuhauf gegessen hatte, weil es "gesund" ist. Für mich ist es das nicht. Ich vertrage es einfach nicht. Dafür vertrage ich immer noch jede Menge Süßes. Es gibt Tage, an denen ich nichts anderes möchte. Trotzdem hat sich mein Körper bei einem Gewicht eingependelt, von dem ich nicht gedacht hätte, dass ich es bei einem solchen Essverhalten haben könnte. Ich dachte immer, ich muss streng auf meine Ernährung achten und fünf- bis sechsmal die Woche Sport machen, um so auszusehen, wie ich heute aussehe. Heute bin ich jemand, von dem ich damals gesagt hätte: "Die kann essen, was sie will, die Glückliche. Die hat einfach von Haus aus einen super Stoffwechsel." Den habe ich. Und den kann jeder haben ... alles, was Mann oder Frau tun muss, ist: essen!


bottom of page