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Die Angst vor der Zunahme: Warum sind so viele Menschen übergewichtig?

Aktualisiert: 4. Mai 2021

Sind wir irgendwann an dem Punkt angekommen, an dem wir einfach nur noch gesund werden und dieses ganze Elend der Essstörung hinter uns lassen möchten, dann gibt es noch eine sehr große Hürde, die uns vom Loslassen abhält: die Angst davor, fett zu werden – und es schlimmstenfalls dann auch zu bleiben.


Hier eine typische Frage stellvertretend für die, die mir oft gestellt werden:


"Du sagst, dass sich der Körper in einem normalen Bereich einpendelt, wenn ich auf meine Bedürfnisse höre und ihm genau das gebe, was er braucht. Daran glaube ich jetzt auch ganz fest und ich bin bereit, loszulassen und zuzunehmen. Allerdings kam mir jetzt die Frage, wieso es dann übergewichtige Menschen gibt. Diese Menschen essen ja meist aus Lust und Laune und diese Tatsache macht mir starke Angst." (Danke hierfür, liebe Moni.)


Nun, eine wissenschaftlich fundierte Antwort zu geben, ist mir unmöglich. Ich denke, das weißt du. Ich bin weder Ärztin noch Ernährungstherapeutin, Biologin oder habe eine ähnlich fundierte Ausbildung. Heißt: Legen wir die psychischen Aspekte einmal beiseite, so kommen wir hier in das sehr weite und sich stets wandelnde Feld der Ernährungsmedizin und -physiologie. Selbst meine liebste Freundin, die eine wunderbare Allgemeinmedizinerin mit eigenem großen Patientenstamm ist, wagt sich nicht daran, diese sehr komplexen und individuellen Stoffwechselprozesse in Bezug auf die Recovery hin zu deuten. Uff. Welch' Ansage!


Aber genau das ist dann wohl der Casus knacksus, denke ich: Gäbe es eine einfache Erklärung, die uns unsere Mediziner auch noch mit einem Lächeln im Gesicht bestätigen könnten, dann gäbe es wohl keine Langzeit-Essgestörten. Dann würde man in die Sucht rutschen, leiden, seine Vergangenheit aufarbeiten, verstehen, dass gegessen werden muss und dass das gar nicht schlimm ist – und essen, um gesund zu werden. Das Problem aber ist: Niemand kann (und will?) uns, zumindest hier in Deutschland, sagen, was genau in und mit unserem Körper passiert, wenn wir plötzlich loslassen und essen. Keine juristische Person gibt uns die klare Ansage, den Körper mit zigtausend Kalorien über Wochen und Monate wieder aufzufüllen. Deshalb ist das Heilen von manifesten Essstörungen auch mit einem enormen Leidensdruck verbunden: Nur diejenigen, die wirklich nichts mehr zu verlieren haben, wagen diesen Weg ins völlig Ungewisse. Und das Informationsmaterial hierzulande ist so mikroskopisch gering und vage, dass es schlussendlich nur auf eines ankommt: das Vertrauen in dich und deinen Körper.


Wie also kann ich dir an diesem Punkt weiterhelfen?


Was ich tun kann, ist, dir das (nichtwissenschaftliche) Wissen weiterzugeben, das mir während meiner Recovery geholfen hat. Hier also meine Antwort auf die Frage, warum es so viele auch stark übergewichtige Menschen auf der Welt gibt und warum die Wahrscheinlichkeit, dass gerade du nach der Recovery stark übergewichtig bleibst, sehr gering ist.


  1. Wir alle sind grundverschieden! Es gibt "große" Menschen, "kleine" Menschen, "dicke" Menschen, "dünne" Menschen und Millionen Nuancen dazwischen. Kennst du die Bewegung "Health At Every Size"? In meinem Blogartikel habe ich bereits darüber geschrieben. Gesund bist du, wenn du deinem Körper das gibst, was er brauchst. Ob das BMI-gerecht ist, oder nicht. Für dich heißt das: Orientiere dich an der, die du vor der Essstörung gewesen bist. So oder so ähnlich wirst du höchstwahrscheinlich auch gesund aussehen. Du hattest keine Modelmaße? Wie viele Menschen haben das schon von Natur aus? Eines kann ich dir sagen: Gesund sein ist so viel wichtiger, lebenswerter und: schöner! Hinzu kommt, dass leider viele Gertenschlanke in unserer wahnsinnigen, diätgeplagten Industrielandwelt ... na was? ... richtig: essgestört sind.

  2. Wusstest du, dass manche Medikamente den Hunger steigern, Ödeme und Flüssigkeitsansammlungen im Körper entstehen oder dich ganz langsam zunehmen lassen? Ob Anti-Baby-Pille, Antidepressiva, Betablocker, Kortison, Antihistamine oder sogar Mittel gegen Kopfschmerzen – wir wissen nie genau, wer was aus welchen gesundheitlichen Gründen zu sich nehmen muss und wie diese Medikamente auf ihn oder sie wirken. Schon gar nicht wissen wir irgendetwas über jemanden, der uns zufällig auf der Straße begegnet. Du siehst?

  3. Inzwischen sollte dir klar sein, dass Diäten dick machen. Viele, viele Menschen, die (stark) übergewichtig sind, sind in einem solchen Teufelskreis gefangen. Sie diäten mit Weight-Watchers, Schlank-im-Schlaf oder sonstigen restriktiven Ernährungsweisen und hungern sich unfassbare 20 Kilo runter. Damit sind viele aber noch nicht bei ihrem Idealgewicht angekommen. Sie sind frustriert, lassen (endlich) los und essen, denn "Jetzt ist eh alles egal". Verständlich. Würden sie bei diesem Denken bleiben, wäre wohl bald alles im Lot, sie würden auf ihren (mentalen) (Extrem-) Hunger hören und ihren Körper gesunden lassen. Aber leider fangen sie – bei wieder zugenommenen 15 Kilo – wieder an, zu diäten. Denn: Mit der nächsten Methode wird's bestimmt klappen. Je öfter das passiert, desto langsamer wird der Stoffwechsel. Klar, als Stoffwechsel würde ich mir auch extremst vereppelt vorkommen und sicherlich nicht darauf vertrauen, dass nach dem großen Fressen keine Hungerphase mehr kommt. Heißt also, ich würde natürlich auch alle Reserven für den nächsten Notstand bunkern. Ich kenne so einige Männer und Frauen, die sich, wenn ich sie sehe, strikt an 1.800 Kalorien halten – und dennoch stark übergewichtig sind. Würden sie nur endlich loslassen und essen … Denn das Fatale ist: Je öfter wir diäten und anschließend wieder essen, desto höher wird das Set-Point-Gewicht.

  4. Es gibt Menschen, die gesundheitliche Probleme mit ihrem Stoffwechsel haben – und zwar ungeachtet der Ernährungsweise. Diese resultieren daraus, dass bestimmte Organe wie die Leber, die Bauchspeicheldrüse, die Schilddrüse oder andere nicht so arbeiten, wie sie es sollen. Auch hier: Wer sind wir, dass wir eine solche Erkrankung aus der Ferne diagnostizieren können? Woher wollen wir wissen, dass der sehr schwere Mann vor mir in der Warteschlange nicht krank ist?

  5. Ein sehr ungesunder Lebensstil fördert Übergewicht. Das heißt natürlich nicht, dass der Mensch fünfmal die Woche Yoga machen und sich zuckerfrei ernähren muss, um einen gesunden Lebensstil zu haben. Mit einem ungesunden Lebensstil ist gemeint, dass der Körper auf Dauer sehr starkem Stress ausgesetzt ist. Das kann durch Depressionen der Fall sein, extremen Schlafmangel oder eine sehr unausgeglichene Work-Life-Balance. Ungesund ist sicherlich auch eine sehr, sehr einseitige Ernährung mit Fast und Junk Food. Diese Art von Essattitüde bekommen wir allerdings oft in die Wiege gelegt. Wer also schon als Kind davon ausgegangen ist, dass literweise Limo am Tag völlig normal und sogar gesund ist (Mensch soll ja mindestens zwei Liter am Tag trinken), der hat auch als Erwachsener größere Schwierigkeiten damit, sich ausgewogen zu ernähren. So schlimm es auch ist: Menschen, die in sozialen Brennpunkten aufwachsen und leben sind häufiger übergewichtig als diejenigen, die der bürgerlichen Mittelschicht (und darüber hinaus) angehören und die Käsefrau im Bioläden beim Namen kennen. Furchtbar.

An dieser Stelle ist es mir selbstredend eine Herzensangelegenheit, noch einmal klar und deutlich zu sagen: Es gibt keine ungesunden Lebensmittel! Junk Food ist Soul Food und als solches ebenso wichtig wie alle anderen Nahrungsmittel, vor allem während der Recovery. Ich konnte monatelang ausschließlich Junk Food zu mir nehmen. Heute sieht das natürlich anders aus. Heute esse ich sehr ausgewogen, einfach deshalb, weil mir mein Körper ganz genau sagt, was er braucht; was er während der Recovery natürlich auch getan hat. Und trotzdem gibt es auch für mich noch Phasen, in denen ich tagelang wie ferngesteuert nach Zucker bin. Nämlich dann, wenn mein Körper die schnelle Energie braucht, zum Beispiel vor meiner Periode, wenn es tagelang dauerregnet oder ich mich gestresst fühle. Das ist normal! Denn auch das geht vorbei!


Die Angst, bei Junk Food "hängenzubleiben", ist im Fall einer Essstörung – meiner Meinung nach – fast ausgeschlossen. Schließlich kennst du dich sehr wohl sehr gut mit dem Thema Ernährung aus und ich gehe stark davon aus, dass du dieses Wissen auch in Zukunft parat haben und auf Dauer lieber zu Wasser und Saftschorle als zu Cola in Non-plus-ultra-Manier greifen wirst. (Hände weg von allen Zero-Light-Geschichten, die schmecken einfach fürchterlich und bringen – literweise getrunken – durch ihren Anteil an Süßstoffen deinen Appetit durcheinander. Igitt und pfui bah!)


Befreie dich von der Angst, dick zu werden und zu bleiben.


All' das heißt zusammengefasst: Wenn sich dein Stoffwechsel nach der Auffüllphase normalisiert hat, erreichst du auf ganz natürliche Weise dein gesundes Set-Point-Gewicht und kannst dieses auch problemlos halten, so lange du nicht hungerst, mehr Sport machst, als dein Körper braucht oder eine andere Art von Restriktion wählst, um Kalorien zu kompensieren. Oder: Wenn einer der obigen Punkte auf dich zutrifft. Und selbst dann heißt das nicht, dass du überübergewichtig werden musst.


Also: Extremhunger ist völlig normal und er wird vorbeigehen! Er ist die Antwort deines Körpers auf deine jahrelange Restriktion. Genauso wie Binging eine normale Reaktion auf eine Diät ist – und zwar nicht nur was die Einschränkung von Kalorien, sondern auch die von Nahrungsmitteln betrifft. All' das sind Überlebensstrategien deines Körpers. Solange du deinem Hunger nicht vollumfänglich und auf Dauer nachgibst, denkt er, dass die Hungerphase noch nicht vorbei ist. Tust du es, kann er endlich vertrauen, loslassen, von innen heraus heilen, und schlussendlich nur noch das einfordern, was er, gesund wie er dann ist, braucht. Erst dann.


Und jetzt: Ab in den Supermarkt und hinein ins Schokiregal!




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