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Über Wertschätzung und böse Mädchen (und Jungs).

Aktualisiert: 25. Mai 2022

Liebe Leser*in, der oder die du mir folgst und durch meine Beiträge versuchst, zu heilen oder gar schon geheilt bist. Heute schreibe ich einen Blogbeitrag, der mir persönlich sehr am Herzen liegt, weil er ein Thema besprechen wird, das uns alle herumtreibt – und mich an die Grenzen des Bloggertums gebracht hat.


Ich fange vorne an.


Wer blogt, zeigt sich öffentlich. Wer dabei auch noch die Emotionen seines Gegenübers anspricht und mit Herz und Blut bei der Sache ist, erzeugt das Gefühl, dass er oder sie für jede*n zu jederzeit da ist. Je mehr Leser*innen dieses Gefühl bekommen, desto schwieriger wird es für Blogger, sich emotional abzugrenzen, vor allem dann, wenn der- oder diejenige sehr sensibel ist. Hier sind wir dann auch bei mir angekommen.


Vielleicht erinnerst du dich: Erst gab es in meinem Blog ein Kontaktformular, dann – auf vielfachen Wunsch – sogar ein Forum. Beides musste ich über Nacht ad hoc löschen.


Wie es dazu kam? Hier sind wir beim Thema angekommen: Ich war zu brav – und schadete mir damit selbst.


Wie und warum? Das erzähle ich euch jetzt – völlig ehrlich und nackig machend – anhand meiner Blogger-Erfahrungen, die ihr auf mein gesamtes Leben übertragen könnt. Angefangen hatte alles damit, dass ich erste Beiträge geschrieben habe, die niemand las. Es ging ungefähr ein halbes Jahr ins Land, bis die erste Mail an mich kam, über die ich mich dann natürlich unglaublich freute. Hieß es doch, dass meine Worte tatsächlich gelesen, ja sogar gesucht und verstanden werden. Mein Ziel, nur einem einzigen Menschen helfen zu können, lag nicht mehr in weiter Ferne. Warum ich dieses Ziel für mich auserkoren hatte? Weil ich meiner Essstörung einen Sinn geben wollte. Ich dachte, "wenn ich schon so viele Jahre leiden musste, dann soll das auch für etwas gut gewesen sein – und wenn es das ist, dass ich Menschen mit meiner Erfahrung helfe". Ich denke, diesen Gedanken kennen einige von euch, vielleicht auch in Bezug auf andere Leiden.


Nun, ich muss nicht weiter beschreiben, dass ich diese Mail mit Enthusiasmus beantwortete und diesen Menschen eine zeitlang voller guter Gefühle begleitete. Denn: Ich war nützlich, ich konnte etwas tun – und es brachte nicht meine gesamte Welt ins Wanken. Ich konnte diese Hilfestellung sehr gut in meinen Alltag integrieren. Irgendwann aber meldete sich dieser Mensch nicht mehr. Warum, ich weiß es bis heute nicht. Ich machte mir natürlich viele Gedanken und suchte die Schuld erst einmal bei mir, so, wie ich nun einmal gepolt bin. Dann aber kamen weitere Mails. Ich konnte wieder helfen. Da sein. Unterstützen. Ich hatte wieder einen Wert und konnte meinen "Verlust" emotional ausgleichen. Puh! Mein Einsatz wurde dankbar angenommen und von den meisten geschätzt. Von anderen, die mich aussaugten und kein Wort des Dankes fanden, nicht. Damit umzugehen fiel mir schwer. Ich dachte: "Jetzt bin ich da, einfach so, unentgeldlich, opfere meine Zeit, verschenke mein Herz – und er oder sie schafft es noch nicht einmal, danke zu sagen?"


Je mehr Mails kamen, je mehr Hilferufe ich beantwortete, desto mehr verlor ich den Bezug zu mir selbst. Ich war getrieben vom "helfen müssen" und konnte nicht mehr unterscheiden zwischen "Was will ich?", "Was kann ich leisten?", "Was tut mir gut?" und "Was bin ich verpflichtet, zu geben?". Ja, ich hatte für jede Geschichte Verständnis. Suchte für jede Verhaltensweise mir gegenüber, die mir weh tat, eine Entschuldigung. Ließ' Menschen wahrlos über meine Grenzen schreiten, weil ich diese so leise und durchsichtig gezeichnet hatte, dass ich sie selbst nicht wirklich erkennen konnte. Es kam zu Szenen, die heute für mich nicht mehr nachvollziehbar sind. Die Eindrücklichste: Ich war im Lock-down mit einer Ein- und einem Sechsjährigen und schrie meinen schreienden Erstklässler an, weil ich einmal mehr eine Mail bekommen hatte, in der mir bedrückende Nachrichten zugeworfen worden waren und die Worte "bitte" und "danke" nicht vorkamen. Ich war völlig überfordert und schaffte es nicht, klare Worte zu finden, weil ich niemanden vor den Kopf stoßen wollte.


An dieser Stelle möchte ich aus dem wunderbaren, immer noch topaktuellen Buch "Und jeden Tag ein bißchen [sic.] böser" von Ute Erhard (dem zweiten Teil nach dem ersten "Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin" aus dem Wolfgang-Krüger-Verlag, 1996) zitieren, Seiten 13 und 14:


"Wo verlangen Sie Gegenleistungen?
Frauen neigen dazu, auf Gegenleistungen zu verzichten. Wenn uns die kranke Freundin bittet, ihre Kinder am Nachmittag zu beaufsichtigen, können wir uns nicht vorstellen, ihr zu antworten: >>Wenn du nächste Woche wieder auf den Beinene bist, nimmst du aber meine Kinder, ich will schon lange mal wieder allein in Ruhe schwimmen gehen.<< Viele glauben, mit Freundschaft hätte das nichts mehr zu tun. Daß [sic.] wir uns schwarz ärgern könnten, wenn die Freundin ihrerseits eine Gefälligkeit später ablehnt, tut nichts zur Sache.

Achtung! Jetzt!

Vielleicht fallen Ihnen jetzt viele Gründe ein, keine Gegenleistung zu fordern. Vielleicht haben Sie das Gefühl, jemand braucht Hilfe und hat einen Anspruch auf Unterstützung, und Sie sind die einzige, die greifbar ist. Sie glauben, eine Gegenleistung zu fordern, käme einer Erpressung gleich. Oder Sie können sich nur zu gut in die Lage des anderen versetzen. Oder Sie wollen nicht kleinlich sein. Sie können Angst vor einer Auseinandersetzung haben oder sich nicht vorstellen, mit welchen Worten Sie Gegenleistungen einfordern sollen. Sie können die Sorge haben, von anderen gemieden oder gar beschimpft zu werden. Oder Sie denken: >>Wir sind doch Freundinnen, man muß [sic.] auch geben können.<<
Keines dieser Argumente ist ein triftiger Grund, auf Gegenleistungen zu verzichten. Fragen Sie immer: Handle ich in meinem Interesse, bekomme ich auch etwas zurück?"

Genau so ging es mir. Und ich denke, dass fast alle Gründe auf mich zutrafen – und das, obwohl ich es noch nicht einmal mit Freundinnen zu tun hatte, sondern mit völlig fremden Menschen. Hinzu kommt, dass auch und vor allem sehr, sehr liebe Nachrichten kamen, voller Wertschätzung und Anerkennung, voller Verständnis und Liebe. Diese Nachrichten gaben mir dann wiederum das Gefühl, doch alles richtig zu machen, selbst wenn alle Mails von Menschen kamen, die wirkliche, verzweifelte Hilfe suchten, was natürlich emotional auch etwas mit mir machte: Es tut unfassbar weh, zu spüren, wie viel Leid in dieser Welt bezüglich Essstörungen ist, obwohl es unzählige therapeutische Angebote gibt, die bei so vielen einfach nicht geholfen hatten. Wut und Verzweiflung genauso wie Mitgefühl und Angst begleiteten mich also tagtäglich.


Dennoch: Ich machte weiter. Ging auf die Bitten ein, ein Forum einzurichten, so dass sich alle Leser*innen untereinander austauschen können. Ich war Feuer und Flamme, dachte, so vielleicht einen Schritt weiter zu kommen. Ich konnte vernetzten und verbinden. Ich fing an, Videos zu drehen. Ich packte so viel Zeit und Mühe in das Vorhaben "Ina Freiheit", wie ich nur konnte. Weil ich verstand, wie vielen Menschen ich damit helfen kann. Es wurden mehr und mehr Mails – und die Gefühle gingen in die nächste Runde. Bis ...


Ja, bis es mir zu viel wurde und ich – so bin ich auch gepolt – von jetzt auf gleich alles löschte: Kontaktformular, Forum und Recovery-Instagram-Account mit Nachrichten-Option. Holà. Jetzt konnte ich mich wieder auf die Inhalte von "Ina Freiheit" konzentrieren. Jetzt konnte ich wieder besser trennen zwischen Familie, Arbeit, Freizeit und Herzensprojekt. Eine Zeit lang ging das gut, dann kamen wieder mehr Nachrichten hereingeflattert ... und es ging von vorne los. Und ich? Voller Emotionen mit dabei. Weil ich so ticke. Weil ich helfen möchte, wo ich kann. Weil ich Leid und Not auch aus der Ferne spüre und es mir besser geht, wenn ich helfen kann.


Warum ich alles das schreibe?


Weil ich ganz genau weiß, dass sehr, sehr viele, die das hier lesen, diese Haltung kennen. Das Sich-selbst-für-andere-aufgeben. Bulimiker*innen und Binge-Eater*innen glauben, diese Sorgen "in sich hineinzufressen" (dabei haben Sie einfach nur Hunger und können, wenn sie diesen gestillt haben, auch anfangen, für sich da zu sein). Magersüchtige ziehen sich zurück und machen sich unsichtbar, um gar nicht erst in den Fokus der Geschehnisse zu kommen (dabei sind die Geschehnisse, nämlich das Leben, so wunderbar, wenn wir nur erst satt sind und anfangen können, uns zu zeigen und Grenzen zu ziehen). Sie alle schaffen es nicht – wie so viele sensible Menschen –, für sich einzustehen und Stellung zu beziehen.


Dabei ist genau das das A und O einer guten Ich-Beziehung und der Kern der Recovery. Es geht darum, sich selbst wertzuschätzen. Sich selbst ernst zu nehmen. Sich selbst zu vertrauen. Es geht darum, Grenzen zu setzen, sich nicht darum zu kümmern, "was die anderen denken", wenn ich wieder ein Kilo mehr habe, weil ich endlich esse. Es geht darum, böse zu sein. Und böse heißt hier nicht: egoistisch, selbstbezogen, fies ... zu sein. Böse ist leider und immer noch unsere (oft, nicht immer, weibliche) indokrinierte Haltung in Bezug auf "sich an die erste Stelle stellen". Böse ist also in diesem Fall gut. Lest super gerne die beiden Bücher von Ute Erhard. Und sicher gibt es inwzischen so viele mehr zum Thema: Emanzipation – und zwar auch in Bezug auf Männer, die ihre weiblichen Seiten zeigen sollen, verdammt nochmal!


Wie gehe ich, Ina, also weiter mit diesem Thema um? Ich werde endlich böööööööse! (Ja, bei mir hat es etwas gedauert nach der Recovery.) Oh ja! Ich erdreiste mich, in Zukunft etwas für meine persönliche Unterstützung zu verlangen, nachdem ich nun seit drei Jahren alles dafür getan habe, mit meinen Beiträgen, Videos und Mails zu helfen. Ich biete fortan meine Hilfe in Form von bezahlten Skype-Calls. Und ja, ich nehme dafür meinen regulären Stundensatz als Texterin – und das, obwohl ich keine ausgebildete Therapeutin, Ärztin oder was auch immer bin. Warum?

  • Weil ich endlich verstanden habe, dass ich das nicht sein muss. Dass meine gesprochenen Worte trotzdem für viele genau so viel oder gar mehr wert sind, als die von Therapeut*innen oder Ärtz*innen.

  • Weil ich damit nichts "falsch" mache, verdammt nochmal!

  • Weil ich es mir wert bin, für meine Arbeit entlohnt zu werden.

  • Weil ich es aushalte, wenn ich dafür beschimpft werde, weil das mehr über mein Gegenüber aussagt, als über mich. (Oh ja, ich wäre vor einiger Zeit auch eine von denen gewesen, die laut geschimpft hätte. Aus diesem Grund habe ich auch immer gesagt: "Niemals werde ich für diese Arbeit Geld nehmen. Ich habe keine Ausbildung. Ich darf das nicht. MAN darf das nicht. Das gehört sich nicht!" Warum? Weil ich mir selbst nicht wichtig genug war.)

  • Weil es Millionen andere Menschen gibt, die genau das tun, was ich jetzt tue – und es absolut legitim ist, für Beratungsarbeit bezahlt zu werden.

  • Weil ich es verdient habe, emanzipiert zu sein und Geld zu verdienen, um mehr zum Familienleben beitragen zu können.

  • Weil mein Mann es verdient, dass er die finanzielle Last von Haus und Kindern nicht alleine schultern muss (Er hat sowieso schon chronische Rückenschmerzen).

  • Weil meine Kinder es verdient haben, dass ich mich mit meiner Arbeit dafür einsetze, ihnen eine bestmögliche Zukunft zu ermöglichen.

  • Weil ich weiß, dass ich in einem Vier-Augen-Gespräch so viel mehr unterstützen kann, als mit wenigen geschriebenen Worten.

  • Weil ich auf diese Weise Grenzen setzte und ganz professionell in Berufliches und Privates unterteilen und unterscheiden kann.

  • Weil ich weiß, dass meine Leistungen und somit mein Wissen und meine Meinung auch wirklich gewollt sind, wenn sie gebucht werden.

  • Weil ich verstanden habe, dass nicht ich es bin, die die Kluft zwischen "privat" und "gesetzlich" schließen kann und muss.

  • Weil, weil, weil ...

Ein Blogbeitrag als eigene Werbung sozusagen? Keineswegs! Ich bin nicht darauf aus, mit diesem Weg die große Kohle zu machen, "mit eurem Leid reich zu werden", wie manche es ausdrücken würden. Ich verdiene mein Geld als Texterin und ja, bald auch als Autorin. Das ist fein und das erfüllt mich. Wenn ich aber von dieser wertvollen Arbeitszeit Stunden abzwacke (wie wertvoll diese Stunden am Tag mit zwei kleinen Kindern sind, das wissen alle Mütter), dann möchte ich auch entsprechend entlohnt werden.


Ja, dieses Beratungsgespräch ist für manche sehr, sehr teuer. Und nein, niemand muss es in Anspruch nehmen, um heilen zu können. Meine Blogbeiträge und Videos sind völlig ausreichend, so lange die Motivation stimmt. Darin sage und schreibe ich wirklich alles – und zwar kostenlos –, was du wissen musst, um den Weg der Recovery gehen zu können. Trotzdem glaube ich, dass es angemessen ist, dieses Geld zu verlangen. Weil ich weiß, dass schon ein einziges Gespräch ausreichen und vielen weiterhelfen kann und dass dieser Stundensatz immernoch in keiner Relation zu anderen Recovery-Angeboten steht, die teuer verkauft und auch gerne in Anspruch genommen werden.


Für mich bedeutet meine Entscheidung: Ich kann jetzt endlich durchatmen und aufhören, tagtäglich lange E-Mails zu beantworten. Ich kann anfangen, besser auf mich zu achten, indem ich auf meine Beratung hinweise, wenn jemand – trotz aller kostenlosen Hilfestellungen, die ich online gebe – weitere Hilfe von mir haben möchte. Ich kann einen professionellen Abstand wahren, indem ich nicht mehr emotional aus wunderschönen Familiensituationen herausgerissen werde, weil wieder eine (leider oft sehr leidvolle) Nachricht auf dem Handy erscheint. Ich kann weiterhin Ina Freiheit sein und muss nicht mehr hin- und herüberlegen zwischen "Ich gebe mich völlig auf" oder "Ich gebe jetzt mein gesamtes Dasein als Ina Freiheit auf, indem ich Blog und Videos lösche". Denn vor dieser Entscheidung stand ich etliche Male.


Ich wünsche mir von Herzen, dass du irgendwann an den Punkt kommst, an dem du genau so handeln würdest. Denn genau dann bist du aus dem ewigen Essstörungsgedankenkreisel ausgestiegen. Dann flüstert dir keine fiese Stimme mehr ins Ohr "Du hast es nicht verdient!"


Du HAST es verdient, gesund zu werden und zu essen. Du HAST es verdient, für dich einzustehen. Du DARFST dich zeigen, so, wie du bist. Du MUSST NICHT von allen gemocht oder gar geliebt werden und dadurch unfrei sein. Du DARFST für dich einstehen, hinhören, was du brauchst – und entsprechend handeln. Du bist ein Mensch, der keine Nuance schlechter ist, als andere. Du hast es genauso verdient, glücklich zu sein, wie jede*r andere auch!


ES KLINGT SO ABGELUTSCHT UND IST SO WAHR: SEI DIR DEINE MUTTER, DEINE SCHWESTER, DEINE BESTE FREUNDIN, DEIN VATER, DEIN BRUDER, DEIN BESTER FREUND! UND FANGE ENDLICH AN, VERANTWORTUNG FÜR DICH ZU ÜBERNEHMEN! NIMM' DICH IN DEN ARM! JETZT. DAS LEBEN IST VIEL ZU KURZ, ALS DASS WIR WEITERHIN VOR UNS WEGLAUFEN. ES IST DEINE ENTSCHEIDUNG.


Alles Liebe, deine Ina


PS: Bei ehrlichem Interesse für einen Skype-Call kannst du gerne Kontakt mit mir aufnehmen.


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